Das neue Evangelium
an dem ich aber so rasende Kopfschmerzen bekam, dass ich nicht ein noch aus wusste. An diesem Tag waren durch den Spruch der Provinzialsynode neunundfünfzig Brüder zum Tod verurteilt worden. Sie wurden auf Karren zu den Scheiterhaufen gebracht und öffentlich verbrannt. Es geschah außerhalb von Paris, auf dem Gebiet der Abtei des heiligen Antonius. Die Scheiterhaufen standen dicht an dicht. Bis auf einen hatte keiner der Brüder um die geforderte Absolution gebeten, obschon Verwandte und Freunde sie inständig baten, sich durch Bekenntnisse zu retten. Sie starben als stolze Templer, die ihren Idealen bis in den Tod treu blieben.«
»Ich kann das Bild vor mir sehen«, bekannte Jesus. »Auch ich sah die Scheiterhaufen brennen.«
»Um dieselbe Zeit«, erinnerte sich Henri, »wurden die Gebeine des verstorbenen Schatzmeisters des Pariser Tempels, Johannes von Thurus, ausgegraben und als Überreste eines Ketzers verbrannt. Sie schreckten nicht einmal vor Totenschändung zurück!«
»Erbärmliche Brut!«, sagte Jesus leise.
»Die Brüder, die gleich gestanden hatten, dem Tempel anzugehören und um Gnade gewinselt hatten, wurden allerdings entlassen. Diejenigen, die erst nach der Untersuchung gestanden, wurden in Klöstern untergebracht oder traten in den Orden der Hospitaliter ein, die, die widerriefen, kamen auf den Scheiterhaufen, die, die hartnäckig leugneten, wie der Priester Raynald von Pruino, der eine Zeit lang mein Beichtvater war, wurden zu ewigem Gefängnis verurteilt.«
»War nicht ein schneller Tod dem vorzuziehen?«, schauderte Ludolf.
Wieder schluchzte Madeleine.
»Zu Paris«, erzählte Henri, »befanden sich um die fünfzig Komture, die in Klöster oder zu den Hospitalitern gingen. Für sie war dies das kleinere Übel.«
»Der Großmeister von Zypern, Rimbaud, starb während der Untersuchung im Kerker«, warf Jesus ein.
»Als der Orden aufgehoben wurde, brachten die Verräter unsere Obersten in getrennten Kerkern unter«, erzählte Henri weiter. »Außer dem Großmeister Jakob von Molay wurden Veit von Auvergne, Hugo von Payraud, Gottfried von Gonaville und Rimbaud von Caron als Führer des Templerordens verhaftet. Der Papst selbst befahl, die vier sollten lebenslang eingekerkert bleiben. Er beauftragte die Bischöfe von Alba und die Kardinäle von St. Eusebius und St. Paque, die sich zuvor noch mit dem Erzbischof von Sens und einigen anderen Prälaten und Doktoren der Rechte beraten hatten, den Oberen das Urteil zu verkünden. Die Kommission sprach also den vier Meistern unseres Ordens die Strafe aus. Das Urteil sollte aus Gründen der Abschreckung in aller Öffentlichkeit, vor dem Volk, verkündet werden. Dazu baute man eine Bühne im Vorhof des Klosters Unser Lieben Frauen, wohin sich die drei päpstlichen Kommissarien, der Erzbischof von Sens und die Prälaten begaben.«
»Du erzählst es so, als wärst du dabei gewesen, Henri.«
»Ich war dabei. Deshalb sehe ich alles deutlich vor mir. Unsere Meister wurden auf die Bühne geführt. Dort wurden ihnen vom Kardinal und vom Bischof von Alba zuerst ihr Geständnis, dann ihre Strafe laut vorgelesen. Darauf wollte ein Kardinal mit einigen Worten das Vergehen des Ordens darlegen. Plötzlich erhoben sich Jakob von Molay und Veit und leugneten ihre Schuld und die des ganzen Ordens. Sie wollten nicht vor dem Volk als Verbrecher dastehen und wehrten sich. Solcher Schande zogen sie den Tod vor, der nun auf sie wartete.«
»Dieser Widerruf verurteilte sie endgültig zum Tod«, sagte Jesus. »Weshalb taten sie es also?«
»Je mehr sie erhofft hatten, für ihre Person die Freiheit zu erlangen, desto mehr entbrannte ihr Zorn bei diesem erniedrigenden Schauspiel. Die Kardinäle waren von dem Wiederruf überrascht, sie zürnten und ließen die Ritter ins Gefängnis zurückbringen. Dann berieten sie sich mit König Philipp.«
»Was geschah mit Hugo von Payraud und Gottfried von Gonaville, die nicht widerrufen hatten?«
»Sie blieben lebenslang in irgendeinem Gefängnis und verstarben dort, von allen vergessen.«
»Und die beiden, die widerriefen, starben auf dem Scheiterhaufen«, konstatierte Ludolf.
»Wie Jesus schon sagte – nach dem Rechtsbegriff der Verräter hatten sie sich durch das Widerrufen ihrer vorher gestandenen Ketzereien des Todes schuldig gemacht. Die beiden Tempelmeister wussten dies natürlich. Unverzüglich setzte der erzürnte König Philipp schon für den nächsten Tag ihre Hinrichtung an. Er wollte keinen weiteren Rat anhören,
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