Das Niebelungenlied
mir.« Als Gunther begriff, war seine Freude groß. »Aber du mußt die List verschweigen, du darfst es niemandem sagen. Dann wird die Königin dir kaum Ruhm abjagen, wie sie es doch im Sinne hat. Sieh nur, wie unbesorgt sie vor dir steht.« Das starke herrliche Mädchen schoß auf einen großen Schild: Den trug Sîfrit an seiner Hand. Aus dem Stachel sprang das Feuer wie vom Wind getrieben. Die Speerspitze fuhr ganz durch den Schild, so daß die Funken noch aus den Panzerringen sprühten. Die kräftigen Männer strauchelten beide von dem Stoß. Ohne die Tarnkappe wären sie tot gewesen, Sîfrit brach das Blut aus dem Mund, aber gleich sprang er zurück und warf den Speer auf sie, der ihm durch den Schild gedrungen war. Er dachte: ›Sie ist eine Frau, ich will sie nicht verletzen‹, und er kehrte den Speer um, so daß das stumpfe Ende auf ihre Rüstung prallte. Der Harnisch erdröhnte laut, und die Funken flogen. Ihre Kräfte konnten dem Schuß nicht widerstehen. Das hätte König Gunther nie fertiggebracht. Prünhilt sprang eilig wieder auf und lobte Gunthers Schuß. Sie glaubte, er hätte es aus eigener Kraft getan, aber ein viel kräftigerer Mann hatte sie da getäuscht. Zornig gingsie zu dem Stein und hob ihn auf. Mit aller Gewalt warf sie ihn weithin und sprang hinterher, daß ihre Rüstung klirrte. Der Stein war zwölf Klafter weit geflogen, aber sie überbot ihn noch mit ihrem Sprung. Sîfrit ging zu der Stelle, an der der Stein niedergefallen war. Gunther bewegte ihn, aber Sîfrit gelang es, ihn zu werfen. Er war von großer Gestalt, und er warf den Stein weiter als sie und sprang noch darüber hinaus, und die Kraft der Tarnkappe machte es ihm möglich, im Sprung Gunther mitzureißen. Der Sprung war getan, der Stein lag nun da. Man sah niemand als Gunther da stehen. Prünhilt wurde zornrot. Sîfrit hatte den Tod des Königs abgewendet. Ziemlich laut sagte sie zu der Gefolgschaft, als sie den Helden wohl behalten am anderen Ende des Kampfplatzes sah: »Kommt näher heran, Freunde und Verwandte! Ihr müßt nun dem König Gunther huldigen.« Die Ritter legten die Waffen ab und warfen sich dem Burgundenkönig zu Füßen. Sie glaubten alle, er habe den Wettstreit mit seiner Kraft bestanden. Er grüßte sie freundlich, denn sein Benehmen war vollendet. Prünhilt reichte ihm die Hand und übergab ihm die Herrschaft. Hagen atmete freudig auf. Prünhilt bat Gunther, sie zu ihrem weißen Palast zu begleiten. Da erwies man dem Helden um so größere Aufmerksamkeit. Dancwart und Hagen ließen sich das gerne gefallen.
Sîfrit hatte umsichtig gedacht und die Tarnkappe wieder fortgetragen. Er kam in den Palast zurück zu den Frauen und fragte den König: »Worauf wartet Ihr, mein Herr? Wann beginnt Ihr mit den Kämpfen, die die Königin Euch in so großer Zahl vorgeschlagen hat? Nun laßt uns bald sehen, wie sie ausfallen.« Er tat, als wisse er von nichts. Die Königin fragte ihn: »Wie ist es möglich, Herr Sîfrit, daß Ihr die Spiele nicht gesehen habt?« Hagen antwortete ihr: »Als Ihr uns so zusetztet, Frau Königin, war Sîfrit beiunserem Schiff. Er weiß nicht, daß Gunther den Kampf siegreich bestanden hat.« – »Welch frohe Nachricht«, rief Sîfrit aus, »daß Euer Hochmut jetzt gedämpft ist, daß jemand lebt, der Euer Meister sein kann. Edle Jungfrau, jetzt müßt Ihr mit uns an den Rhein kommen.« Darauf antwortete sie: »Das wird so schnell nicht gehen. Erst müssen meine Angehörigen davon erfahren und die Gefolgschaft. Bevor ich meine besten Freunde nicht benachrichtigt habe, kann ich mein Land nicht verlassen.« Sie schickte Boten nach allen Richtungen und ließ ihre Lehensleute und Verwandten auffordern, sie sollten unverzüglich nach Isenstein kommen. Dort ließ sie ihnen wertvolle Gewänder geben. Sie kamen täglich von morgens bis abends in Scharen in der Stadt angeritten. »Um alles in der Welt«, sagte Hagen, »wo hatten wir unsere Augen! Wir erwarten die Männer der schönen Prünhilt hier sehr zu unserem Schaden. Wir wissen nicht, was sie vorhat, und wenn sie uns nun so zürnt, daß wir verloren sind? Wenn ihre ganze Heeresmacht ins Land kommt, so wird uns das Mädchen noch schwere Sorgen machen.« Da sprach Sîfrit: »Was Ihr fürchtet, werde ich verhindern. Ich lasse es nicht zu. Ich werde Euch die Unterstützung auserlesener Kämpfer bringen, von denen Ihr noch nie erfahren habt. Kümmert Euch nicht um mich – ich werde Euch verlassen. Gott wird Euer Ansehen erhalten inzwischen. Wenn ich
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