Das Niebelungenlied
Sîfrit fuhr fort: »Es wird schon gut werden. Uns ist es sehr ungleich ergangen heute nacht, scheint mir. Ich liebe deine Schwester mehr als das Leben. Und Prünhilt muß deine Frau werden. Heute nacht komme ich heimlich unter der Tarnkappe in Eure Kammer. Schicke die Kämmerer nach Hause. Ich lösche den Kämmerern die Lichter aus, daran kannst du erkennen, daß ich hereingekommen bin. Du siehst, daß ich dir gefällig bin. Heute will ich deine Frau überwältigen, damit du sie lieben kannst, oder ich will umkommen.« – »Wenn du ihr nicht zu nahe trittst«, sagte Gunther, »dann will ich gern einverstanden sein. Tu, was du willst, und wenn du sie tötest. Das will ich verwinden. Sie ist ein gräßliches Weib.« – »Ich verspreche dir bei meiner Ehre, daß ich sie nicht lieben werde. Deine Schwester steht für mich über allen anderen.« Das wollte Gunther wohl glauben.
Das Turnier ging indessen zur Freude und Mühsal für die Ritter weiter, bis die Kämmerer zu Tisch riefen und den Frauen die Wege zum Saal frei machten. Bald lag derHof leer da. Mit jeder Königin ging ein Bischof zu Tisch, die Männer folgten ihnen in ansehnlichen Scharen an die Tafeln. Gunther saß in froher Zuversicht unter ihnen. Sîfrits Versprechen kam ihm nicht aus dem Sinn, und der eine Tag schien ihm dreißig Tage lang. Alle seine Gedanken waren auf Prünhilt gerichtet. Er konnte kaum erwarten, daß die Tafel aufgehoben wurde. Prünhilt und Kriemhilt zogen sich mit den Rittern zur Ruhe zurück. Sîfrit saß in fröhlicher ungetrübter Laune bei seiner schönen Frau. Sie streichelte zärtlich seine Hände, und auf einmal verschwand er ihr vor den Augen, sie wußte nicht wie. Da sie ihn plötzlich nicht mehr sah, sagte sie zu seinem Gefolge: »Ich wundere mich sehr, wo der König hingekommen ist. Wer hat seine Hände aus meinen Händen genommen?« Aber sie sprach nicht weiter.
Sîfrit ging an den Lichtern der Kämmerer vorbei und löschte sie ihnen aus in den Händen. Da wußte Gunther, daß Sîfrit gekommen war. Er schickte die Hofdamen und die Mägde weg. Als sie gegangen waren, schloß er selbst die Tür und warf zwei starke Riegel vor. Das Licht schirmte er mit den Bettvorhängen ab. Nun war es nicht anders: Sîfrits und Prünhilts Spiel begann. Gunther wurde zwischen Hoffnung und Scham hin und her gerissen. Sîfrit legte sich neben Prünhilt. (Später trachtete sie ihm nach dem Leben.) »Laßt es sein, Gunther«, sagte sie, »wenn Euch lieb ist, daß es Euch nicht so geht wie schon einmal.« Sîfrit antwortete nicht. Gunther konnte deutlich hören, daß er nicht zärtlich wurde (obwohl er ihn nicht sah); das Bett war beiden unbequem. Sîfrit stellte sich, als sei er König Gunther, und umarmte das Mädchen. Sie warf ihn aus dem Bett gegen eine Bank, daß sein Kopf hart an einem Schemel aufschlug. Unentmutigt sprang er wieder auf und versuchte es nochmals, aber der Kampf machte ihm Mühe. Ich glaube,daß sich keine Frau nach ihr so widersetzt hat. Als er nicht abließ, sprang sie auf und rief: »Ihr sollt mir meine Kleider nicht zerreißen! Ihr seid grob, das soll Euch leid tun. Ich werde es Euch schon zeigen«, sagte sie. Sie umklammerte ihn mit ihren Armen und wollte ihn fesseln wie König Gunther, damit sie endlich Ruhe in ihrem Bett habe. Was halfen ihm nun seine Kräfte? Sie bewies ihm ihre Überlegenheit. Sie trug ihn mühelos fort und preßte ihn gewaltsam zwischen einen Schrank und die Wand. ›O weh‹, dachte er, ›wenn ich mein Leben durch eine Jungfrau verliere, dann werden alle Frauen gegen ihre Männer übermütig, die sonst gar nicht daran gedacht hätten.‹ Gunther hörte alles und fürchtete für Sîfrit. Der schämte sich und begann, sich rücksichtslos zu wehren, trotz aller Gefahr griff er sie von neuem an. Gunther schien es eine lange Zeit, bevor er sie bezwang. Sie preßte seine Hände, daß ihm das Blut unter den Nägeln hervorsprang. Es schmerzte ihn, aber er brachte es zustande, daß sie ihr ungeheuerliches Vorhaben aufgeben mußte, mit dem sie anfangs gedroht hatte. Gunther hörte schweigend zu. Sîfrit warf sie auf das Bett, daß sie laut aufschrie vor Schmerz. Sie griff an ihre Hüfte nach dem Gürtel und wollte ihn binden, aber er hinderte sie so derb, daß ihr die Knochen im Leibe krachten. Da gab sie den Kampf auf. So wurde sie Gunthers Frau. »Edler König«, sagte sie, »laß mich leben. Ich will alles wiedergutmachen, was ich dir angetan habe. Ich will mich nie mehr gegen deine Liebe wehren; ich
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