Das Niebelungenlied
Gastgeber machte sich alle Mühe, den Gästen zu zeigen, wie gern sie hier gesehen waren. Die Ritter rannten einander mit eingelegten Lanzen an. Vor dem Burgtor schallten die Schilde von Hieben und Stößen. Hagen und Ortwîn zeigten ihre Macht: Was sie auch vorschlugen, alles wurde ausgeführt: Lange hielt der König mit seinen Gästen vor dem Burgtor, und die Zeit verging wie im Fluge. Endlich ritten sie in den Burghof. Schöne Decken hingen über die Sättel herab. Die Gäste wurden in ihre Gemächer geführt. Manchmal sah Prünhilt Kriemhilt an und betrachtete den Wetteifer von Gold und Schönheit an ihr. Dancwart ließ nun auch das Gesinde bequem unterbringen. Die Straßen waren von festlichem Stimmenlärm erfüllt Draußen und drinnen waren Tische gedeckt, an denen jedermann essen durfte, der König war so reich, daß keinem ein Wunsch abgeschlagen wurde. Gunther saß mit seinen Gästen zu Tische, und wieder saß Sîfrit ihm gegenüber im Kreis seiner Männer, das waren wohl zwölfhundert. Prünhilt dachte, daß ein Lehensmann nicht reicher sein könne, aber sie gönnte es ihm; noch war sie ihm wohlgesinnt.
Wenn der König bei Tisch saß, floß der Wein in Strömen. Die Bewirtung war ausgezeichnet, wie es bei Festen immer war, und die Frauen und Mädchen wurden gut untergebracht. Der König erfüllte jeden Wunsch. Morgens blitzten die Edelsteine an den Kleidern, wenn sie aus den Reisetruhen genommen wurden. In aller Frühe kamen Ritter und Knechte auf dem Burghof zusammen und sangen dem König zu Ehren eine Messe, und dann turnierten die Jungen vor ihm. Die Posaunen tönten, und der Schall der Trommeln und Flöten drang weit durch das ganze große Worms. Von überall her kamen die Ritter zu den Spielen und turniertenmit jugendlichem Mut, und die Frauen saßen geschmückt an den Fenstern und sahen ihnen zu. Da begann auch der Gastgeber selbst mit seinen Freunden Turnier zu reiten. So vertrieben sie sich die Zeit. Als die Glocken vom Turm erklangen, ritten die Frauen zur Messe, die Ritter folgten ihnen. Vorm Münster saßen sie ab. Unter ihren Kronen traten sie gemeinsam in die Kirche; noch gab es nicht die Uneinigkeit, die später durch großen Neid entstand. Nach der Messe ritten sie zurück und setzten sich fröhlich zu Tisch. Die Feststimmung hielt ungetrübt an bis zum elften Tag.
14 . WIE DIE KÖNIGINNEN MITEINANDER STRITTEN
An einem Nachmittag vor der Vesper herrschte auf dem Hof das fröhliche Treiben der ritterlichen Übungen, und immer mehr Zuschauer fanden sich ein. Die Königinnen saßen beieinander und hatten zwei Helden im Sinn, die beide rühmenswert waren. Da sagte Kriemhilt: »Ich habe einen Mann, dem alle diese Reiche untertan sein sollten.« Prünhilt versetzte: »Wie kann das sein? Wenn niemand auf der Welt wäre außer ihm und dir, dann könnte er die Länder beherrschen. Solange aber Gunther lebt, ist daran gar nicht zu denken.« Kriemhilt antwortete: »Sieh doch nur, wie er dasteht und vor den Rittern einhergeht wie der Mond vor den Sternen! Warum sollte ich da nicht glücklich sein?« Aber Prünhilt sagte: »Wie schön und tapfer dein Mann auch sein mag, so mußt du doch Gunther den Vorzug lassen. Der steht über allen Königen, das weißt du recht gut.«
»Mein Mann ist so angesehen, daß ich mit gutem Grund seine Frau geworden bin. In vielen Taten hat er sich höchsteEhre erworben. Glaube nur, er ist Gunther ebenbürtig«, sagte Kriemhilt.
»Nimm es nicht übel auf«, sagte Prünhilt, »denn ich habe auch nicht ohne Grund so gesprochen. Sie sagten es beide, als ich sie zum erstenmal sah; als der König mich besiegte und meine Liebe so ritterlich verdiente, da hat Sîfrit selbst gesagt, er sei ein Dienstmann des Königs, und deshalb halte ich ihn für leibeigen.«
Da sagte Kriemhilt: »Dann wäre mir übel geschehen. Wie hätten meine Brüder gehandelt, wenn sie mich einem Unfreien zur Frau gegeben hätten? Sprich nicht so, Prünhilt, mir zuliebe.«
»Ich kann es nicht lassen«, sagte die Königin. »Dann müsste ich ja auf alle Ritter verzichten, die uns Lehensdienste schuldig sind.«
Kriemhilt erzürnte sich. »Du mußt darauf verzichten, daß er dir überhaupt Dienste leistet. Er ist mächtiger als mein Bruder. Verschone mich mit deinen Reden. Mich wundert nur, daß er dir so lange keine Abgaben gezahlt hat, wenn er dir doch leibeigen ist und du so viel Gewalt über uns hast. Ich bin deinen Hochmut leid.«
»Du überhebst dich«, sagte Prünhilt. »Ich will doch sehen, ob man
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