Das Niebelungenlied
dich so ehrenvoll behandelt wie mich.«
Nun waren beide zornig. »Das soll sofort geschehen«, sagte Kriemhilt. »Du hast behauptet, mein Mann sei leibeigen, und nun sollen alle sehen, ob ich vor Gunthers Frau die Kirche betrete. Heute wirst du merken, daß ich aus freiem Geschlecht bin und daß mein Mann mächtiger ist als deiner. Ich lasse mir das nicht bieten, und du wirst ja sehen, wie deine Leibeigene heute vor allen Rittern zu Hof geht. Ich möchte doch wissen, ob ich nicht vornehmer bin als jede Königin, die jemals hier die Krone getragen hat.« Sie waren furchtbar erbittert. »Wenn du nichtunfrei sein willst«, sagte Prünhilt, »so mußt du dich mit deinem Gefolge von meinem trennen, wenn wir zur Kirche gehen.« – »Das will ich gewiß tun«, sagte Kriemhilt.
Sie befahl ihren Frauen, die reichste Kleidung anzulegen. »Ich muß hier ohne Makel bleiben, und Prünhilt soll zurücknehmen, was sie gesagt hat.« Die kostbarsten Kleider wurden herausgesucht, und die schöne Kriemhilt kam mit ihrem Gefolge, das waren dreiundvierzig Mädchen, die leuchtende Stoffe aus Arabien trugen. So gelangten sie zur Kirche, vor der Sîfrits Männer warteten. Jedermann verwunderte sich, wie es gekommen sein mochte, daß die Königinnen nicht zusammen gingen wie vorher. Die Ritter sahen die Trennung mit Besorgnis. Prünhilt und ihr Gefolge standen bei ihnen vor der Kirche und unterhielten sich. Da kam Kriemhilt mit ihrer prächtigen Schar. Alle Kleider, die Rittertöchter je getragen haben, waren ein Nichts vor Kriemhilts Gefolge. Sie war so reich, daß dreißig Königinnen nicht aufbringen konnten, was Kriemhilt an Staat vorwies. Sie hätte es unterlassen, wenn sie nicht Prünhilt hätte kränken wollen. Vor der Kirchentür trafen sie zusammen.
Prünhilt befahl Kriemhilt in scharfem Ton, stehenzubleiben. »Eine Unfreie soll nicht vor einer Königin eintreten.« Zornig sagte Kriemhilt: »Du hättest besser geschwiegen. Du hast selbst Schande über dich gebracht. Wie kann wohl die Geliebte eines Unfreien je die Frau eines Königs werden?«
»Wen hast du mit der Geliebten gemeint?« fragte Prünhilt. »Dich«, entgegnete Kriemhilt. »Sîfrit war es, der deinen schönen Leib zuerst geliebt hat. Nicht Gunther hat dich entjungfert. Wo hattest du deinen Verstand? Das war doch ein wohlausgedachter Plan. Warum ließest du denn zu, daß er dich liebte, wenn er doch unfrei ist? Du beklagstdich ohne Grund«, sagte Kriemhilt. »Das werde ich Gunther sagen«, drohte Prünhilt. – »Was soll mich das stören? Dein Hochmut hat dich verleitet. Du hast mich zu deiner Dienerin erklären wollen, und du kannst sicher sein: ich werde deine Geheimnisse nicht mehr verschweigen.« Prünhilt weinte. Kriemhilt wartete nicht länger und trat vor ihr mit dem Gefolge in die Kirche. Und strahlende Augen wurden trüb vor Haß. Der Gottesdienst und der Gesang dauerten Prünhilt viel zu lange, sie war ganz erschöpft von Kummer. (Tapfere Krieger mußten später dafür büßen.) Vor der Kirche blieb sie mit ihrem Gefolge stehen, denn sie dachte: ›Kriemhilt muß mir genauer sagen, was sie mir so scharfzüngig vorwirft, und wenn Sîfrit sich damit gerühmt hat, soll es ihm ans Leben gehen.‹ Kriemhilt kam inmitten ihrer Ritter daher. »Wartet«, sagte Prünhilt. »Ihr habt mich eine Kebse genannt, beweist das. Euer Gerede hat mich tief verletzt.« Kriemhilt entgegnete: »Ihr ließet mich besser in Ruhe. Ich beweise es mit dem Gold hier an meiner Hand. Das brachte mir mein Mann mit, als er bei Euch gelegen hatte.« Prünhilt hatte niemals einen schlimmeren Tag erlebt. »Das Gold ist mir gestohlen worden. Ich werde schon herausbekommen, wer es genommen hat.« Sie wurden immer erregter, und Kriemhilt ereiferte sich: »Ich lasse mich nicht des Diebstahls beschuldigen. Du hättest besser geschwiegen, wenn du etwas auf deine Ehre hältst. Daß ich nicht lüge, beweise ich mit dem Gürtel, den ich trage. Also war es doch mein Sîfrit, der dich entjungferte.« Sie trug den edelsteinbesetzten Gürtel von Seide aus Ninive, und als Prünhilt ihn bemerkte, fing sie an zu weinen. Das sollten Gunther und alle Burgunden erfahren. »Bittet den König hierher«, sagte sie. »Ich will ihm sagen, wie seine Schwester mich beschimpft hat. Sie hat öffentlich behauptet, Sîfrit hätte mich als erster besessen.« Der Königkam mit seinen Rittern und sah sie weinen. Besorgt fragte er, wer ihr etwas angetan habe. Sie antwortete: »Ich habe Grund zum Weinen. Deine Schwester wollte
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