Das Nilpferd
er in etwas Riesiges, etwas Spitzes und Stachliges, das ihn festhielt und ins Gesicht pikste. Der Schock war so enorm, das Gefühl, sich völlig in den Klauen von etwas zu befinden, das er nur für ein Gespenst oder ein wildes Tier halten konnte, daß er unwillkürlich aufschrie; ein kurzer Angst- und Schmerzensschrei.
Im Augenblick seines Aufschreis wurde David klar, daß er bloß in den Weihnachtsbaum hineingelaufen war. Angewidert von seiner eigenen Feigheit, spuckte er eine Nadel aus, trat aus dem Baum zurück und horchte. Von oben war kein Geräusch zu hören: keine Rufe, kein Ächzen im Schlaf, kein Plärren der Zwillinge, bloß ein helles Geklingel des Weihnachtsschmucks, mit dem sich der Baum von der Kollision erholte. Wahrscheinlich war Davids panischer Ausruf doch nicht so laut gewesen. Vor seinem inneren Ohr spielte er ihn noch einmal ab und stellte fest, daß es genaugenommen nicht mehr als ein heiseres Keuchen gewesen war.
Den Baum vorsichtig umrundend, nahm David seinen Weg zur Bibliothek wieder auf.
In der Bibliothek war der Geruch nach Zigarrenrauch so stark, daß sich die Haare an seinen Beinen aufstellten. Warm war es auch; ein schwach oranges Glimmen im Kamin zeigte, daß das Feuer noch nicht erloschen war. David schloß die Tür hinter sich und tastete nach dem Lichtschalter.
Er blinzelte in der plötzlichen Helligkeit und sah sich im Zimmer um. Erleichtert sah er, daß die Fensterläden geschlossen waren. Keine Rechtecke aus Licht konnten auf den Südrasen fallen, die für jeden sichtbar gewesen wären, der in irgendeinem Schlafzimmer im ersten Stock aus dem Fenster sah.
Im fünften Regal, hinter Lord Logans gewaltigem Schreibtisch, stand eine elegante Reihe zwölf alter Bücher mit dem Titel
Crabshawe’s History of the Countie of Norfolk
. Sie waren in sandfarbenes Leder gebunden und hatten Goldprägedruck.
David fuhr die Reihe mit dem Finger entlang, wie ein Bücherwurm im Buchladen, bis er zu Band VI kam, den erherauszog und auf den Schreibtisch legte. Er schob seine Hand in die Regallücke und suchte nach dem Hebel. Er zog kräftig daran und war schockiert vom lauten Schwirren der Feder, die die Sperre freigab. Tagsüber hörte sich der Mechanismus wie ein leises Flüstern an.
Der ganze Regalabschnitt schwang nach hinten, David schritt durch die Geheimtür und in die dahinter liegende Kammer.
Hier konnte er keinen Lichtschalter finden und mußte also mit dem Licht arbeiten, das aus der Bibliothek hereinfiel. Sehen konnte er allerdings und mehr noch spüren: die Köpfe von Fuchs und Hirsch, die auf ihn herabstarrten, den leichten Duft nach Waffenöl und das Pendel einer weiteren Standuhr.
Er ging zu einem kleinen Sekretär zwischen zwei Waffenschränken an der Wand. Auf dem Sekretär lag ein großes, wattiertes Lederbuch von Smythson’s in der Bond Street.
Wildbuch
stand darauf. Vorletzte Weihnachten hatte Simon es Daddy geschenkt. David wußte noch, wie aufgeregt er darum gebeten hatte, es sich anschauen zu dürfen, da er so eine Art Enzyklopädie oder Lexikon der Dschungel und Prärien erwartet hatte. Er war enttäuscht gewesen, als er herausgefunden hatte, daß es bloß leere Seiten enthielt und linierte Rubriken mit Überschriften wie »Datum«, »Art«, »Gewehre«, »Anzahl erlegt« und so weiter.
Hinter dem Wildbuch befand sich eine kleine Schublade. David zog sie auf und wühlte mit einem Finger in ihrem Inhalt, bis er – unter Gummibändern, Kunstfliegen und Mullkompressen – einen Schlüssel fand, um den sich seine Faust mit erleichtertem und entschiedenem Griff schloß. Als nächstes war die Küche an der Reihe.
Beim Durchqueren der Halle vermied er mit großer Sorgfalt den Weihnachtsbaum. Jetzt, da er wußte, daß erdort stand, konnte er natürlich ganz deutlich sehen, daß er an der Treppe wie ein großer und zottiger Bär Wache hielt.
David erschauerte in dem plötzlichen warmen Luftzug, der ihn traf, als er die mit rotem Flanell bespannte Tür öffnete und die Stufen zur Küche hinabstieg.
Durch die hohen, halbrunden Fenster fiel Mondlicht herein; es glänzte auf den Weidenkörben, die schon für das große Frühstück bereitstanden. David ging um den Tisch in der Mitte herum, setzte sich auf einen Stuhl neben dem Herd und zog seine Turnschuhe wieder an. Sein Ellenbogen berührte ein Stück Butterbrotpapier auf dem Tisch. Er lüpfte eine Ecke des Papiers und roch geräucherten Schinken. Sofort zog sich seine Kehle krampfartig zusammen. Er wandte sich ab und
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