Das Nostradamus-Testament: Thriller (German Edition)
auf das sie nicht mehr zu hoffen gewagt hatten, überschüttete Lorenzo Silvio mit Liebe und Aufmerksamkeit. Angelica fand manchmal, dass es zu viel des Guten sei. Du unterdrückst damit seine Selbstständigkeit, warf sie ihm vor, du musst ihm mehr Raum geben. Lorenzo wiederum fand sie oft zu streng mit ihrem Sohn. Ein scharfer Blick, ein strenger Seufzer, ein harter Unterton in der Stimme. Lauter kleine Dinge. Ihm gegenüber konnte sie auch so sein, aber er zweifelte nie an ihrer Liebe. Vielleicht, dachte er manchmal, versucht sie damit nur, mein übertriebenes Behüten aufzuwiegen, indem sie sich ein paar Schritte zurückzieht. Er hatte sie nie danach gefragt.
Bereits in einer frühen Phase ihrer Beziehung hatte er entdeckt, wie empfindsam sie war. Eine unbedachte Bemerkung konnte sie völlig aus der Bahn werfen. Von einer Sekunde auf die andere war sie komplett verändert. Er hatte nie herausgefunden, wo genau diese unsichtbare Grenze verlief. Sie reagierte auf zwei unterschiedliche Weisen. Entweder ging sie an die Decke, oder sie zog sich ganz in sich zurück. Verstummte vollständig. Er wusste nicht, was schlimmer war.
Angelica war nicht mit ihm entführt worden. Wieso nicht? Es war ihr offenbar gelungen zu entkommen. Zusammen mit Bjørn Beltø. Was für ein ungleiches Paar. Aber es war clever von ihr, sich mit dem norwegischen Archäologen zusammenzutun. Er packte die Dinge an, suchte nach Lösungen. Und Angelica weiß sich zu wehren. Ein kleines Lächeln. Angelica kommt immer zurecht. Jedes Mal, wenn er an sie denkt, hört er das hohe Timbre ihrer Oboe. Wenn sie spielt, wird sie eins mit dem Instrument. Man muss wohl Musiker sein, um das zu verstehen. Er selbst ist musikalisch auf eine andere, oberflächlichere Art. Er beherrscht die Technik. Aber zwischen ihm und der Musik ist eine unsichtbare Wand. Er verschwindet nie ganz in ihr. Nicht wie Angelica. Er hat sie einmal gefragt, wieso sie keine Musikkritiken schreibe. Über Platten. Konzerte. Immerhin war sie Kulturredakteurin und eine talentierte Musikerin. Sie hatte ihn angesehen. Lange. Verstehst du das wirklich nicht?, hatte sie gefragt. Nein, hatte er geantwortet. Ich liebe die Musik viel zu sehr, um sie kritisieren zu können. Sie war so schwach. Und zugleich so stark. Angelica war ein Mensch der Gegensätze. Woher kam ihre Verletzlichkeit? Woher nahm sie ihre Kraft? Es war, als trage sie ein Geheimnis mit sich herum, das sie mit niemandem teilen wollte. Eines Sonntagmorgens – sie waren schon einige Jahre zusammen – hatte er sie in einer Milchlache liegend in der Küche gefunden, die Knie ans Kinn hochgezogen, die Arme um die Beine geschlungen. Sie hatte am ganzen Leib gezittert. Noch heute, so viele Jahre später, war das Gefühl der Panik in ihm lebendig. Er hatte nicht verstanden, was mit ihr los war, dachte im ersten Augenblick, es wäre ein Hirnschlag. Mein Gott, Angelica, hatte er gerufen, was ist passiert? Halt mich fest, hatte sie geantwortet, nicht mehr, nur das: Halt mich fest! Und er hatte sie festgehalten. Eine gute halbe Stunde hatte er sie im Arm gehalten, ihr beruhigend ins Ohr geflüstert, sie ganz langsam entspannt. Er hatte sie ins Bad getragen, sie in die Wanne gelegt und Wasser einlaufen lassen, so heiß, dass es ihr fast die Haut verbrühte. Trotzdem hatte sie gezittert. Was war über sie gekommen? Noch Jahre später hatte er auf eine Erklärung gewartet. Aber es gab keine. Eine Art Weltschmerz, der Schmerz des Lebens, behauptete sie, ein existenzieller Schmerz. Er hatte nie verstanden, was sie damit meinte. Sie, die von Wörtern lebte, hatte nie die richtigen gefunden. Nach dem Bad hatte er sie abgetrocknet und ins Bett gebracht, wo sie eingeschlafen war. Später, er hatte im Büro eine Vorlesung vorbereitet, hatte er sie spielen hören. Albinonis Adagio in g-Moll . So zart, so schön. Er war vor der Schlafzimmertür stehen geblieben, ohne dass sie ihn gesehen hatte. Sie spielte mit geschlossenen Augen. Dann legte sie plötzlich das Instrument weg, zog die Decke über sich und schlief wieder ein.
Er sieht sich in der Zelle um, als suche sein Blick nach einem Halt. Er geht ans Fenster, schaut über die Landschaft. Fragt sich, wo er ist. Wie ist es möglich, dass ein paramilitärischer Orden katholischer Mönche so viele Jahrhunderte im Verborgenen überleben kann? In einer Burg, einem Kloster. Weit weg von den Menschen, so viel ist sicher. Aber das Kloster ist trotz allem nicht unsichtbar. Es muss Menschen geben, die von
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