Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
wenn Ihnen lieber wäre, daß sie bleibt, hätte ich keinen Einwand. Nun, Mr. Ferguson, ich bin ein beschäftigter Mann mit vielen Aufträgen, meine Methode muß kurz und direkt sein. Die schnellste Operati on ist die am wenigsten schmerzhafte. Lassen Sie mich zunächst eines sagen, das Sie erleichtern wird. Ihre Gattin ist eine sehr gute, sehr liebevolle und eine sehr mißhandelte Frau.«
Ferguson fuhr mit einem Freudenschrei auf. »Beweisen Sie das, Mr. Holmes, und ich bin für immer Ihr Schuldner.«
»Das werde ich tun, aber um es tun zu können, muß ich Sie in anderer Hinsicht tief verletzen.«
»Das macht mir nichts, solange Sie meine Frau entlasten. Alles auf Erden ist, damit verglichen, unbedeutend.«
»So lassen Sie mich denn den Gang meiner Schlußfolgerungen wiedergeben, der mir in der Baker Street durch den Kopf gezogen ist. Die Vorstellung von einem Vampir war mir zu absurd. So etwas gibt es nicht in der Kriminalpraxis Englands. Und doch waren Ihre Beobachtungen präzis. Sie hatten gesehen, wie sich die Dame mit Blut an den Lippen von der Wiege des Kindes erhob.«
»So war es.«
»Ist Ihnen nie eingefallen, daß man eine frische Wunde auch aus einem anderen Grund, als um Blut zu gewinnen, aussaugen kann? Gab es in der englischen Geschichte nicht eine Königin, die eine Wunde aussaugte, um Gift aus ihr zu entfernen?«
»Gift!«
»Ein Haus mit südamerikanischem Einschlag. Mein Instinkt witterte diese Waffen an der Wand, ehe meine Augen sie sahen. Es hätte auch anderes Gift gewesen sein können; aber das ist mir sofort eingefallen. Als ich den kleinen leeren Kö cher neben dem kleinen Bogen sah, war es etwas, das zu sehen ich erwartet hatte. Wenn das Kind mit einem dieser Pfeile, den man in Curare oder etwas ähnliches getaucht hatte, gestochen worden sein sollte, so hätte es den Tod bedeutet, wenn das Gift nicht ausgesaugt worden wäre.
Und der Hund! Wenn jemand solch ein Gift benützen will – wird er nicht vorher ausprobieren, ob es seine Kraft nicht schon verloren hat? Den Hund hatte ich nicht einkalkuliert. Aber wenigstens verstand ich, sein Befinden zu deuten: Es paßte in meine Rekonstruktion.
Verstehen Sie jetzt? Ihre Frau hat einen Angriff auf Ihr Baby befürchtet. Sie sah, wie er ausgeführt wurde, und rettete das Leben des Kindes, und sie ist doch davor zurückgeschreckt, Ihnen die ganze Wahrheit zu sagen; denn sie wußte, wie Sie den Jungen lieben, und fürchtete, Ihnen könnte es das Herz brechen.«
»Jacky?«
»Ich habe ihn beobachtet, als Sie vorhin das Kind liebkosten. Sein Gesicht spiegelte sich deutlich in der Fensterscheibe vor dem Hintergrund des Ladens. Ich sah solche Eifersucht, solch grausamen Haß, wie ich es selten in einem menschlichen Gesicht wahrgenommen habe.«
»Mein Jacky!«
»Sie müssen dem ins Auge blicken, Mr. Ferguson. Es schmerzt um so mehr, als es eine irregeleitete Liebe ist, eine grotesk übersteigerte Liebe zu Ihnen und möglicherweise zu der toten Mutter, die seine Handlungen bestimmte. In tiefster Seele wird er vom Haß auf das prächtige Kind verzehrt, dessen Gesundheit und Schönheit im Gegensatz zu seiner eigenen Schwäche stehen.«
»Großer Gott! Es ist unglaublich!«
»Habe ich die Wahrheit gesagt, Madame?«
Die Dame schluchzte, das Gesicht in den Kissen vergraben. Dann wandte sie sich ihrem Ehemann zu.
»Wie hätte ich es dir sagen können, Bob? Ich fühlte, was für ein Schlag es für dich wäre. Es war besser, wenn ich wartete und wenn es von anderen Lippen als den meinen gesagt würde. Als dieser Herr, der Zauberkräfte zu besitzen scheint, mir schrieb, er wisse alles, war ich froh.«
»Ein Jahr auf See wäre meine Verordnung für Master Jacky«, sagte Holmes und erhob sich aus seinem Sessel. »Nur eines ist mir noch nebelhaft, Madame. Wir verstehen Ihre Attacken auf Master Jacky ganz und gar. Auch der Geduld einer Mutter sind Grenzen gesetzt. Aber wie konnten Sie es wagen, das Kind in diesen letzten zwei Tagen allein zu lassen?«
»Ich hatte es Mrs. Mason erzählt. Sie wußte alles.«
»Genauso habe ich es mir vorgestellt.«
Ferguson stand am Bett, keuchend, zitternd, und streckte die Arme nach seiner Frau aus.
»Ich glaube, für uns ist es Zeit zu gehen, Watson«, flüsterte Holmes. »Wenn Sie einen Ellenbogen der allzu treuen Dolores nehmen, ich nehme den anderen. So«, fügte er hinzu, als er die Tür
hinter uns geschlossen hatte,
Weitere Kostenlose Bücher