Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
werden kann, der beobachtet wurde…« Holmes hielt inne und schlug sich plötzlich die Hand vor die Stirn. »O Watson, Watson, was war ich für ein Narr! Es scheint unglaublich, und doch muß es wahr sein. Alles wahr sein. Alles weist in eine Richtung. Wie konnte ich nur den Zusammenhang übersehen? Diese Knöchel – wie konnte ich nur die Knöchel übersehen? Und der Hund! Und der Efeu! Es ist an der Zeit, daß ich mich auf die kleine Farm zurückziehe, von der ich schon so lange träume. Vorsicht, Watson! Da ist er! Es gibt Grund genug, uns vorzusehen.«
Die Tür zur Halle war langsam geöffnet worden, und gegen den hellen Hintergrund hob sich Professor Presburys hohe Gestalt ab. Er trug einen Morgenmantel. Er stand deutlich umrissen in der Tür, aufrecht, doch vornübergebeugt, und die Arme baumelten, wie wir es letzthin schon gesehen hatten.
Nun trat er auf den Fahrweg, und eine außerordentliche Wandlung ging mit ihm vor. Er hockte sich nieder und lief auf Händen und Füßen, sprang auch dann und wann, als hätte er zuviel Kraft und Vitalität. Er bewegte sich an der Hausmauer entlang und bog um die Ecke. Als er verschwand, schlüpfte Bennett durch die Tür und folgte ihm vorsichtig.
»Los, Watson, los!« rief Holmes, und wir stahlen uns, so leise wir konnten, aus den Büschen, bis wir einen Punkt erreicht hatten, von dem aus wir die vom Licht des Halbmonds überflutete Seite des Hauses sehen konnten. Der Professor war deutlich auszumachen, wie er am Fuß der efeubewachsenen Wand kauerte. Plötzlich begann er mit unglaublicher Wendigkeit emporzuklettern. Von Ranke zu Ranke sprang er mit sicherem Fuß und festem Griff in anscheinend reiner Freude an seiner Kraft und ohne bestimmtes Ziel. In seinem Morgenmantel, der ihn umflatterte, sah er, ein großer dunkler Fleck an der Mauer, wie eine riesige Fledermaus aus. Dann wurde er des Vergnügens müde, ließ sich von Ranke zu Ranke hinunter, hockte sich wieder in seiner früheren Haltung hin und kroch auf die Ställe zu. Jetzt war auch der Wolfshund draußen, bellte wütend und erregte sich noch mehr, als er seinen Herrn erblickte. Er zerrte an der Kette und zitterte vor Rage und Gier. Der Professor verharrte mit Bedacht außerhalb der Reichweite des Hundes und fing an, das Tier auf jede nur mögliche Art zu reizen. Er nahm eine Handvoll Steinchen vom Weg und warf sie ihm ins Gesicht, neckte ihn mit einem Stock, fuchtelte mit den Händen wenige Zentimeter vor seinem aufgesperrten Maul herum und tat überhaupt alles, das schon äußerst aufgebrachte Tier noch mehr zu reizen.
Ich weiß nicht, ob sich mir bei all unseren Abenteuern jemals ein seltsamerer Anblick geboten hat als dieses Bild eines stumpfen und trotz allem noch würdig aussehenden Mannes, der wie ein Frosch auf der Erde hockte und den längst rasend gemachten Hund, der vor ihm tobte und sich bäumte, mit allem, was Grausamkeit nur ersinnen konnte, immer weiter anstachelte.
Dann geschah es in einem Augenblick! Nicht daß die Kette riß: das für den dicken Hals eines Neufundländers gefertigte Halsband rutschte dem Hund über den Kopf. Wir hörten das Klirren fal lenden Metalls, und im nächsten Moment rollten Hund und Herr auf der Erde, der eine mit Wutgeheul, der andere in schrillen Schreckenstönen kreischend. Das Leben des Professors hing an einem Haar. Die wilde Kreatur hatte ihn an der Kehle gepackt und ihre Fangzähne tief eingegraben. Der Professor war bewußtlos, ehe wir zur Stelle waren und sie auseinanderzerren konnten. Für uns wäre es ein gefährliches Unterfangen gewesen, doch Bennetts Gegenwart und Stimme beruhigten den großen Wolfshund. Der Aufruhr hatte den verschlafenen, erstaunten Kutscher aus seiner Stube über den Ställen gelockt.
»Das überrascht mich nicht«, sagte er kopfschüttelnd. »Ich habe ihn schon öfter dabei beobachtet. Ich wußte, der Hund würde ihn früher oder später zu fassen kriegen.«
Der Hund war wieder angekettet; wir trugen den Professor in sein Zimmer, und Bennett, der einen medizinischen Grad besaß, half mir, die zerschundene Kehle zu verbinden. Die scharfen Zähne waren gefährlich nahe der Halsschlagader eingedrungen, und die Wunde blutete bedenklich. Nach einer halben Stunde war das Schlimmste vorüber, ich hatte dem Patienten eine Morphiuminjektion gegeben, und er lag in tiefem Schlaf, Nun erst hatten wir Zeit, einander anzusehen und die Lage zu bedenken.
»Ein erstklassiger Chirurg sollte sich um ihn
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