Das Orakel der Seherin
jeden Fall muß ich den beiden irgend etwas vorweisen, damit sie mir den Rest ihrer Schrift zeigen.«
»Warum bietest du ihnen nicht einfach mich an? Als Menschenopfer?«
»Hör mit dem Unfug auf, diese Leute sind gar nicht so übel.« Ungewollt muß ich lächeln. »Aber sie üben das Schießen mit Automatikwaffen in der Wüste.«
»Das hört sich an, als ob sie unser geliebtes Amerika mit einer schlagkräftigen neuen Sekte überraschen wollen.«
»Nein, das glaube ich nicht, obwohl sie, wie gesagt, Waffen haben. Ich habe die Seters heimlich darüber reden hören.« Ich überlege. »Aber vielleicht kommen uns diese Waffen ganz gelegen.«
»Warum?«
»Kalika hat angerufen.«
Die Nachricht schockiert ihn. »Wann?«
»Vor einer halben Stunde.«
»Sie hat hier angerufen?«
»Ja.«
Der Appetit auf sein Frühstück ist ihm vergangen. Mit bleichem Gesicht sitzt er da und starrt aus dem Fenster. In der Ferne liegt der Pazifik. Nur Seymour und ich wissen, wie rot sich das Wasser färbt, wenn es mit Blut vermischt wird.
Aber dann fällt mir ein, daß mein Freund sich gar nicht genau an das erinnert, was Kalika ihm angetan hat. Doch ich weiß, daß jetzt die Zeit gekommen ist, es ihm zu sagen. Und nicht nur das.
»Woher hat sie unsere Nummer?« murmelt er.
»Ja, woher? Sie bekommt immer, was sie will.«
»Wenn sie unsere Telefonnummer hat, weiß sie auch unsere Adresse.
Vielleicht ist sie längst auf dem Weg hierher.«
Ich schüttele den Kopf. »Wenn sie uns töten wollte, hätte sie nicht vorher angerufen.«
»Und warum hat sie angerufen?«
»Sie sagte, daß sie meine Stimme hören wollte.«
»Hat Hitler auch seine Mom angerufen, um ihre Stimme zu hören?«
»Sie hat das Kind bisher noch nicht gefunden, und jetzt will sie, daß ich ihr dabei helfe.«
»Aber du weißt doch auch nicht, wo es ist.«
»Darüber ist sie informiert. Und trotzdem glaubt sie, daß ich sie irgendwie zu Paula und ihrem Baby führen kann.«
Seymour ist verwirrt. Ich weiß, was er als nächstes sagen wird.
»Du hast doch gewiß zumindest eine Ahnung, was an dem Kind so besonders ist.«
Ich gieße mir ein Glas Orangensaft ein. Seit meiner Wiedergeburt als Vampirin habe ich nur dreimal Blut getrunken, ansonsten ernähre ich mich von anderen Dingen. Ich glaube, daß Yaksha gegen Ende seines Lebens überhaupt kein Blut mehr benötigt hat. Doch ich muß zugeben, daß das rote Lebenselixier mir gut geschmeckt hat – besser als der Orangensaft, den ich jetzt trinke.
»Möglicherweise ist in Suzamas Schrift von eben diesem Kind die Rede«, sage ich leise.
Seymour starrt mich an. »Du machst Scherze, nicht wahr?«
»Nein.«
Er wirkt verärgert. »Das ist doch lächerlich. Auch wenn ich an Vampire glaube, an dich und deine schlechtgelaunte Tochter, glaube ich noch lange nicht daran, daß Jesus kürzlich in einem Krankenhaus in Los Angeles wiedergeboren wurde. Tut mir leid, aber das ist wirklich zuviel verlangt. Das Ganze ist einfach absurd.«
»Erinnerst du dich daran, was mit dir geschah, nachdem Kalika dich vom Pier gestürzt hatte?«
Er zögert. »Ja. Das Wasser war eisig kalt, ich wurde unterkühlt, verlor das Bewußtsein, und du kamst zu meiner Rettung.«
»Wo hast du das Bewußtsein wiedererlangt?« »Oben in den Bergen. Am nächsten Morgen.« »Du warst ziemlich lange bewußtlos, findest du nicht auch?«
»Ach ja? Was hat das mit dem Kind zu tun?«
Ich spreche mit Bedacht: »Seymour, du bist in dem kalten Wasser nicht einfach nur bewußtlos geworden. So einfach hat Kalika dich nicht gehen lassen.
Sie hat etwas nach dir geworfen, einen scharfen Pfahl. Er war geformt wie ein Speer.« Ich atme tief durch. »Sie hat ihn so fest geworfen, daß er dein Rückgrat durchbohrt hat und vorn auf Höhe deines Magens wieder herausgekommen ist.«
Seymour steht auf. »Das stimmt nicht.«
»Es stimmt sehr wohl. Ich bin vom Pier gesprungen und habe dich zur Küste gebracht, genauso, wie ich’s dir erzählt habe. Aber du warst kaum eine Minute auf dem Strand, als du endgültig das Bewußtsein verloren hast.« Er ist sichtlich aufgewühlt. »Und wie ist die Wunde dann so schnell wieder verheilt? Du hast mir doch gesagt, daß du mir nichts von deinem Vampirblut abgegeben hast.«
»Zu dem Zeitpunkt wollte ich dir mein Blut geben. Aber ich hatte Angst, den Pfahl herauszuziehen. Ich habe gefürchtet, daß es dich töten würde.« Ich zucke mit den Schultern. »Also ließ ich ihn drin.«
Er atmet schwer. »Du hast meine Frage nicht
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