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Das Orakel der Seherin

Das Orakel der Seherin

Titel: Das Orakel der Seherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Pike
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beim letztenmal, als wir uns getroffen haben. Er blickt auf, als ich näher komme, und seine Augen funkeln im matten gelben Licht der Straßenlampen. Doch er erhebt sich nicht. Vermutlich bereitet ihm das Aufstehen Schwierigkeiten. Ich erinnere mich, daß ich ihm beim letztenmal dabei helfen mußte. Jetzt lächelt er mir warm entgegen.
    »Tatsächlich, Sie sind es«, sagt er. »Ich habe mir schon gedacht, daß Sie wiederkommen.«
    »Haben Sie auf mich gewartet?« frage ich.
    »Sicher. Mir macht es nichts aus zu warten. Schließlich hab’ ich nicht mehr viel zu tun.«
    Ich hocke mich neben ihn. »Was tun Sie, wenn Sie nicht gerade auf mich warten?«
    Er reagiert zurückhaltend. »Oh, ich treibe mich ein bißchen herum, nehme hier und da einen Gelegenheitsjob an und helfe, wo ich kann.«
    Ich lächle. »Letztesmal haben Sie auch mir geholfen.«
    Er wirkt erfreut. »Das ist schön. Aber Sie sind ein cleveres Mädchen, das sich selbst zu helfen weiß.« Er überlegt. »Hey, wie wär’s mit einem kleinen Kartenspiel?«
    Ich runzle die Stirn. »Poker?«
    Er schüttelt den Kopf. »Nein. Das ist zu schwierig für einen alten Burschen wie mich. Man muß zuviel dabei überlegen. Wie wär’s mit einer Runde Siebzehn und Vier ? Wissen Sie, wie man das spielt?«
    Ich sitze mit gekreuzten Beinen neben ihm. »Ich bin die geborene Spielerin.
    Haben Sie Karten?«
    Er greift in die Tasche seiner alten Jacke und zieht ein Kartenspiel hervor.
    »Ob ich Karten habe? Natürlich! Frisch aus Las Vegas importiert! Macht’s Ihnen was aus, wenn ich mische? So sind die Regeln, wissen Sie? Derjenige, der gibt, muß auch mischen.«
    »Tun Sie das! Was ist unser Einsatz?«
    Er nimmt einen Schluck von seiner Milch. »Ist mir egal.« Er lacht, und es klingt wie Musik in meinen Ohren. »Ein alter Rumtreiber wie ich hat ohnehin nichts zu verlieren.«
    Ich stimme in sein Lachen ein. »Wie ist Ihr Name, alter Rumtreiber?«
    Er hält inne, und unsere Blicke begegnen sich. »Einen Moment! Sie sind hier der Youngster, und Sie haben mir Ihren Namen noch nicht gesagt.«
    Ich halte ihm die Hand hin. »Ich bin Sita.«
    Er schüttelt sie. »Mike.«
    »Woher kommen Sie, Mike?«
    Er läßt meine Hand los und mischt das Kartenspiel. Er ist ein Profi, das sehe ich sofort an der Art, wie er das tut. Doch seine Stimme klingt plötzlich eine Spur traurig. Es liegt kein Schmerz darin, eher Melancholie.
    »Von überall her, Sita«, antwortet er. »Wenn man so alt ist wie ich, ist ein Ort wie der andere. Aber ich versuche, in Bewegung zu bleiben und meinen Teil beizutragen. Woher kommen Sie ?«
    »Indien.«
    Er ist sichtlich beeindruckt. »Meine Güte, das ist ein gutes Stück entfernt. Auf der Reise hierher müssen Sie ja einiges erlebt haben.«
    »Viel zuviel, Mike. Aber wie wär’s, wenn wir mit dem Reden aufhören und statt dessen anfangen zu spielen? Ich bin richtig scharf darauf, Sie in Ihrem Lieblingsspiel zu schlagen.«
    Er tut, als sei er beleidigt, aber er lächelt immer noch.
    »Einen Moment noch«, sagt er. »Wir haben noch nicht über den Einsatz entschieden. Was haben Sie anzubieten?«
    »Geld.«
    Er nickt. »Geld ist gut. Wieviel haben Sie?«
    Ich greife in meine Tasche. »Dreihundert Dollar cash.«
    Er pfeift erstaunt durch die Zähne. »Lieber Himmel. Sie tragen ihr Sparbuch mit sich herum. Ich weiß nicht, ob ich das klug finden soll.«
    Ich rolle das Bündel Zwanziger auf, die ich aus einem Geldautomaten an der Straße gezogen habe.
    »Ich setze das hier. Was setzen Sie?«
    Meine Frage scheint ihn zu überraschen. Ein wenig mißtrauisch fragt er:
    »Was wollen Sie denn?«
    »Oh. Wie wär’s mit ein paar Hinweisen? Falls ich gewinne, meine ich.«
    Seine Antwort klingt leicht ironisch: »Wenn Sie gewinnen, brauchen Sie die nicht. Sie brauchen sie eher, wenn Sie verlieren.« Damit beginnt er, die Karten zu verteilen. »Aber klar kann ich Ihnen damit dienen. Gehen Sie mit dem alten Mike nur nicht zu hart ins Gericht.«
    Ich werfe einen Zwanziger in die Mitte. »Ich versuche, mich zu beherrschen.«
    Wir beginnen zu spielen, und ich verliere die ersten zwei Runden. Vierzig Dollar gehören ihm.
    Bei den folgenden sechs Spielen geht es mir nicht anders. Jede meiner Entscheidungen stellt sich als falsch heraus, obwohl ich mir wirklich Mühe gebe. Schon mehr als die Hälfte meines Geldes ist in seinen Besitz überge-gangen. Wenn ich nicht bald einmal gewinne, war’s das für mich.
    Beim neunten Spiel wendet sich das Blatt. Ich gewinne, und er reicht mir

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