Das Orakel von Antara
vor wenigen Monaten nicht einmal sein Name bekannt war?“
„Verzeih, Kandon!“ antwortete Vanea. „Ich hatte es dir nie sagen wollen, aber nun muss ich es wohl tun. Du erinnerst dich doch daran, dass ich dich rief, als Yorn in den Felsspalt gestürzt war. Während mein Ruf deine Gedanken erreichte, lag dein Geist völlig offen vor mir. Ich fand in ihm die Liebe zu deinem Volk und alles, was du von ihm wusstest. Bitte, sei mir nicht böse, aber auch ich wollte das Volk kennen und lieben, das ja bald auch mein eigenes werden soll. Daher nahm ich dein Wissen in mich auf, und heute ist es so, als sei ich bei den Nivedern geboren wie du. Ich soll zwar jetzt die Schwester von Reven spielen, aber glaube mir, seit jener Zeit bist du mir nahe, als wärest du mein Bruder, denn ich teile deine Erinnerungen mit dir.“
Kandon war erschrocken, doch dann zog die Röte einer tiefen Verlegenheit über seine Wangen. „Du ... weißt ... alles, was ich ... erlebt habe?“ stammelte er.
Vanea musste über sein erschrecktes Gesicht lachen. „Oh, Kandon! Du brauchst nicht verlegen zu werden“, beruhigte sie ihn. „In deine tiefen, persönlichen Geheimnisse kann auch ich nicht eindringen. Sie sind versperrt, und niemand könnte sie dir gegen deinen Willen entreißen. Nur das, was an der Oberfläche deiner Gedanken ist, war für mich zugänglich. Und ich fand dort nichts, dessen du dich schämen müsstest - im Gegenteil! Du bist ein guter Mensch und wahrer Freund, Kandon!“ schloss sie leise.
„Das weiß ich auch, ohne seine Gedanken zu lesen“, brummte Reven mit einem Seitenblick auf Kandon. „Aber trotzdem ist das eine Gabe, die uns vielleicht Nutzen bringen kann. Sag, Vanea, kannst du das auch mit den Antaren tun, auf die wir bald treffen werden? Es würde mir viel Fragerei ersparen.“
„Nein, so einfach geht das nicht“, antwortete Vanea. „Ich habe festgestellt, dass die meisten Menschen ihre Gedanken sofort verschließen, wenn ich versuche, in sie einzudringen. Das geschieht wahrscheinlich unbewusst, ohne dass sie wissen, was passiert. Ich reichte weit hinaus, um in den Gedanken der Nachfolgenden Informationen für uns zu finden, aber nur eines der Kinder verschloss sich nicht vor mir. Auch hier habe ich immer wieder versucht, den Kontakt zu den Sklaven herzustellen, doch ohne Erfolg. Nur, wenn sich mir jemand freiwillig öffnet, kann ich in seine Gedanken dringen. Auch ihr beide gestattet diese Berührung nicht, und sogar Kandon hat mir seit jenem Tag seinen Geist verschlossen. Doch ich sage euch eines: Wie ich es sehe, kann meine Gabe für uns einmal lebensnotwendig sein, wenn wir zum Beispiel getrennt werden und in Gefahr geraten. Daher solltet ihr mir alle einmal gestatten, Zugang zu euch herzustellen, damit ihr bei einer Bedrohung jederzeit wisst, wie ihr euch mir öffnen könnt.“
Eine Weile schwiegen die Männer unbehaglich, doch dann sagte Yorn: „Vanea hat Recht! Es wäre wichtig, dass wir Botschaft von einander erhalten können, falls wir getrennt werden. Es ist zwar ein eigenartiges Gefühl, dass jemand meine Gedanken erforschen kann, aber ich bin bereit dazu. Vanea, mein Geist steht dir jederzeit offen. Versuch' es!“
Über Vaneas Lippen zog ein kleines, glückliches Lächeln. Gerade bei Yorn hatte sie sich erhofft, diese innige Verbindung herstellen zu können. Sie nahm sich vor, ihn zu lehren, wie er auch den umgekehrten Weg finden konnte.
„Gut!“ sagte sie daher. „Entspanne dich! Schließ' deine Augen und versuche, dich mir weit zu öffnen!“ Yorn befolgt ihre Anweisung, doch er spürte nichts. „Du wehrst dich noch“, hörte er Vaneas sanfte Stimme. „Vertraue mir, mein Liebling, ich tue dir nicht weh!“
Vor Yorns geschlossenen Augen entstand Vaneas Bild. Wieder wurde ihm bewußt, wie sehr er dieses Mädchen liebte. Ein Gefühl tiefer Zärtlichkeit erfüllte ihn. Da spürte er auf einmal ein leises Zupfen in seinen Gedanken, so als versuche jemand, eine Bettdecke zu lüpfen. Und dann war es, als glitten zarte Finger sanft tastend über seinen Geist. Es war ein angenehmes Gefühl, und unwillkürlich öffnete er sich weit, um den warmen Strom voll zu empfangen, der sich in ihn ergoss. Eine Weile genoss er dieses herrliche Gefühl, dann aber begann er, seine Gedanken auszusenden, um die Quelle dieses wunderbaren Stroms zu finden. Und auf einmal hatte er sein Ziel erreicht!
„Sei mir willkommen, Geliebter!“ Vaneas Stimme erfüllte ihn, und
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