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Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Hünniger
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fällt da kein Geruch ein. Ich weiß, wie der Winter riecht, wie Frost riecht. Wie der kalte Morgen nach einer Nacht riecht, in der es sogenannten Frost gegeben hat. Es ist eine absolut saubere, ungetrübte Luft, aber verkaufen lässt sich der Duft »Frost« oder »Winter« ja doch nicht. Es riecht hier etwas nach Zitrone, würde ich sagen. Ich zünde |54| eine Zigarette an und rauche sie am Fenster. Das wird schon gehen, das wird schon keiner merken.
    Ich schaue aus dem Fenster. Unten läuft ein dicker Mann vorbei in einem buntkarierten Hemd. Ob ich sie noch alle hätte, ruft er zu mir hoch. Er hat eine randlose Brille.
    Er geht in das Hotel.
    Mein Telefon klingelt.
    »Spreche ich mit Frau Hünniger?«
    »Hm, ja, wer ist denn da?«
    »Ich möchte, dass Sie unser Haus sofort verlassen!«
    »Ähm, was? Warum?«
    »Würden Sie bitte herunter in die Lobby kommen.«
    In solchen Momenten suche ich a) die endgültige Antwort auf die Frage nach dem Universum und b) nach innerer Ausgeglichenheit. Douglas Adams hat dafür in
Per Anhalter durch die Galaxis
einen Computer namens Deep Thought. Der rechnet aus: die Antwort auf alle Fragen nach dem Universum. Die Lösung aller Fragen lautet: 42.
    In der Lobby wartet der dicke Mann mit dem buntkarierten Hemd an der Rezeption. Der Raum ist ganz beige, ab und zu vergoldet. An Lampen, am Geländer, an Rändern. Die langen Blumen in der großen Vase auf dem Tresen der Rezeption verdecken die Frau dahinter. Langsam wird es dunkel.
    »Sie haben eine Zigarette geraucht.«
    »Ja.«
    »Sie wissen, dass wir ein Nichtraucherhaus sind.«
    »Hm.«
    »Sie haben die Regeln gebrochen und ich fühle mich persönlich angegriffen.«
    »Sie können sich durch eine Zigarette doch nicht persönlich angegriffen fühlen.«
    |55| »Doch.«
    »Tut mir leid.«
    »Das können Sie in der großen Stadt vielleicht machen. Aber nicht hier. Nicht in Weimar. Wir sind vielleicht klein. Wir sind vielleicht Ossis. Aber geraucht wird hier nicht.«
    »Ich bin eigentlich …«
    »Es ist mir egal, wer Sie sind. Wir sind sensibel!«
    Außerdem: Er habe alles so liebevoll eingerichtet. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt für eine eigene Meinung.
     
    Ich liebe diese Stadt. Weimar hat Fernweh. Weimar wäre manchmal gern Paris. Oder am Meer. Das Meer ist weit weg.
    Am Bahnhof warte ich auf meine Freundin. Was lesen wir heute in der Zeitung? Babys, die vom Balkon fallen, entführte Kinder, Nazis, die sich zusammenrotten, Stasi. Gegenwart. Ich lese lieber die überregionalen Zeitungen. Sie haben die besseren schlechten Nachrichten.
    Früher war alles besser. Ich zeige meiner Freundin die Stadt, ich weiß nicht, was ich ihr zeigen soll. Hier, bitte schön, der Theaterplatz, das sind Goethe und Schiller. Baby, ich komme nicht vom Mars, sagt sie dann. Das Plattenbauviertel zeige ich ihr nicht. Nicht, weil ich mich schäme. Es ist fremd geworden. Es wohnt keiner mehr dort, den ich kenne. Die Nachbarn sind andere, habe ich gehört, es gibt einen neuen Sportplatz. Es ist Heimat, aber nur in der Erinnerung. Heute wohnen meine Eltern außerhalb der Stadt, in einem kleinen Dorf, auf der anderen Seite des Ettersbergs. An unsere Wohnung im Viertel erinnere ich mich gut. Es standen überall Bücher herum. Science-Fiction vor allem und Karl May. Meine Eltern waren Kommunisten. Aber die große Marx-und-Engels-Ausgabe verstauten sie unter dem |56| Bett. Im
Kapital
blätterte mein Vater noch gern und zitierte daraus. Unser Spielzeug hieß Klecks, Fips, Flip und Wuschi.
     
    Ich glaube, es war ein heißer Tag. Einer dieser Tage, die schlimm enden würden. Mit einem Gewitter und garantiert heftigem Donner. Es lag so etwas in der Luft, als mein Vater den Globus aus meinem Regal zog. Er nahm ihn an der Plastikleiste, die um die Erdkrümmung gespannt war, und stellte ihn behutsam auf den Teppich. Der Ordnung wegen sagte er noch: »Es gibt Dinge, die nicht zusammengehören«, fummelte die Plastikleiste ab und trat dann mit dem Fuß auf die Pappkugel. Er drückte seinen rechten Fuß ganz langsam in den Globus hinein. Als er ihn wieder herausziehen wollte, blieb sein rechter Hausschuh darin stecken. Dann stopfte er alles zusammen in den Kohleofen, brach einen dieser weißen, nach Benzin riechenden Kohleanzünder ab und ließ Globus, Hausschuh und Anzünder in Flammen aufgehen. Es war Sommer 1990, ich war fünf Jahre alt, spielte mit Murmeln, und die DDR tat ihre letzten Atemzüge.
    Ein Rückblick: Der 9. November 89 war ein Schock. Die Bilder der

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