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Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Hünniger
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Kampfgruppe.«
    »Auch so’n Verein«, sagt Egon, vom dem wir nur den |111| Rücken sehen. Ich meine aber, sein Grinsen zu hören. »Frühjahr bis Herbst 89 haben wir immerhin sechsmal trainiert. Ich hatte das schwere Maschinengewehr. Die andern die Kalaschnikow. Die war viel leichter. Also, für mich war das sehr anstrengend. Die Verpflegung war immer gut.«
    »Um die hab ich mich ja auch gekümmert«, sagt einer der Alten, der eine besonders gelbe, faltige Haut im Gesicht hat. »Erster Sekretär. Meine Herrschaften. Im Besitz des Ehrenbanners der Partei. So.«
    »Die Verpflegung wurde aber später schlechter.«
    »Na na.«
    »Wir haben da schon angefangen, Sperrketten zu üben.«
    »Auf dem Parkplatz in Buchenwald? Das ist ja, na ja, eigenartig«, sagt der Pfarrer.
    »Warum? Das ist nun mal freies Gelände«, sagt einer der Alten, der Erste Sekretär.
    »Na ja, Buchenwald, Kampfgruppe, Sperrketten. Also …«
    »Was wollen Sie damit sagen?«
    Der Pfarrer widmet sich ganz der Witwe.
    »Die meiste Zeit standen wir sowieso nur herum und es wurde auf irgendetwas gewartet«, sagt mein Vater.
    »Idiotenverein«, sagt Egon. »Wir haben da schon längst klar Schiff gemacht in der Zentrale.«
    »Im späten Herbst wurde da erst das Feldlager aufgebaut, wir haben auf einen Befehl gewartet und die Nacht wurde auf Stroh in Zelten verbracht. Wir hatten Probleme mit der Versorgung. Und es war kalt. Es gab eigentlich nur Minzlikör und Nordhäuser Doppelkorn. Schießübungen haben wir gemacht, um sich aufzuwärmen. Was sollte man sonst machen. Wir übten an der Waffe und warteten auf den Befehl zum Einsatz der Waffen gegen Demonstranten. Dachten wir |112| uns ja, dass wir hier nicht zum Spaß oben waren und uns den Arsch abfroren. Wir diskutierten darüber. Wir wollten lieber nicht auf Demonstranten schießen. Waren ja alle Familienväter. Wir haben beschlossen, alle, den Befehl zu verweigern, und das auf einen Zettel gekritzelt und den an höhere Stellen weitergeleitet.«
     
    Einer der Alten, einer mit Stock, zischelt etwas Unverständliches. »Die Leute hatten’s doch satt«, sagt mein Vater, »Wahlergebnisse von 98, 99 Prozent. Das kann man mit dem eigenen Volk doch nicht lange machen. Da fühlt sich doch jeder verarscht.«
    Egon haut mit der flachen Hand auf den Tisch: »Aus dir hätte mal was werden können!« Er schaut meinen Vater an. »In Moskau studieren dürfen. In der Partei. Alle Sekretäre und Untersekretäre in der Familie und den Chef der Landwirtschaft als Vater. Mein lieber Mann.« Er knallt sich ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte auf den Teller. »Wir haben die Wahlergebnisse ja nicht mutwillig beeinflusst. Na, da hat einer angerufen und hat uns gesagt, das sei so noch nicht richtig gut. Da würden von oben 98 Prozent erwartet … Freie Wahlen, ich lach mich kaputt. Ihr denkt, 1990, das waren freie Wahlen? Da kamen die Wessis nach Weimar und Erfurt und haben in einer Nacht tausend Plakate geklebt. Das hätten uns doch hier schon die Gesetze gar nicht erlaubt. Die kamen in der Nacht mit Bussen und haben auf dem Marktplatz – damals, als der Kohl da war, da standen 100   000 Erfurter Bürger verführt vom goldenen Westen auf dem Marktplatz, und die Schwarzen verteilten nu plötzlich Kassetten und Schallplatten an unser Volk mit den Reden von Helmut Kohl, damit sie sich das zu Hause anhören. Also …«
    |113| »Na, da hat er nicht unrecht. Das hätte sich die Stasi schon als Behörde nie erlauben können. Was war die Stasi? Gab’s doch ne Menge Abteilungen. Wurd halt mal einer eingesperrt, ja Gott.«
    Stille.
    »Nu lass mal gut sein«, sagt mein Vater.
    »Dir hat der Ehrgeiz gefehlt«, sagt Egon. Und da widerspricht man nicht, weil jeder weiß, dass er am wenigsten Ehrgeiz hatte von allen. Am meisten davon hatten die Alten, die tischten ihre Kämpfe und die Opfer, alle, die sie bringen mussten, mit dem zarten Hirschfleisch auf. Denn ihnen ging es nicht »um Leben und Tod, sondern um viel mehr«. Verdammt noch mal.
    »Wo ist denn deine Tochter überhaupt?«
    »Hier«, sage ich und melde mich, hinter dem Tisch auf dem Boden sitzend. »Hier unten«, sagt Michel und zeigt auf mich. Über uns thronen Ursula und Sabine, sie halten ihre Hände fest umklammert, zwei vorbildlich im Sofa brütende Großmütter, deren Kinder und Enkel weggezogen sind, weshalb sie die Geburtstage aller Kinder und die aller Enkel auswendig aufsagen können und das nach ein oder zwei Gläsern Eierlikör auch tun. Wir sitzen vor ihnen

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