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Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Hünniger
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auf dem Boden, sitzen hier unten, um die Augen schließen zu können, ohne dass uns jemand mit Anstand kommt.
    »Soll sich das Kind doch nicht erkälten, komm, hier ist noch Platz.«
    Ich setze mich mit einer Mischung aus Ekel und Gehorsam neben Onkel Egon.
     
    Seine Stimme dröhnt im Ohr, ich überlege: Wahl? Welche Wahl?
    |114| Ich erinnere mich an die Wahlen 1990. Ja, ich erinnere mich. Da wurde Helmut Kohl unser Kanzler. Da waren die Wahlkabinen, die in meinem ersten Klassenzimmer aufgebaut wurden, die aber keiner benutzen wollte. Eigenartig, die Eltern in der Schule zu sehen.
    Jetzt würde sich alles ändern. Und »ja« war das Wort, das uns weckte. »Ja« brüllten Männer aus jedem Fenster im Block. »Nein« sagte mein Vater nebenan. Ich stieg aus dem Bett und rannte ins Wohnzimmer, ich dachte, etwas Wichtiges sei passiert, aber es geschah nichts weiter, als dass Helmut Kohl Kanzler von ganz Deutschland wurde – und von uns auch.
     
    Der Pfarrer und ich (bloß weg vom Sofa) helfen meiner Großmutter das Geschirr in die Küche zu bringen. Sie stehen beide an der Spüle. »Ach ja«, sagt meine Großmutter. »Wird schon wieder«, sagt der Pfarrer. »Was?«, fragt meine Großmutter. »Öhm, alles, Gudrun, alles.« Das Wasserrauschen unterbricht das Gespräch. Ich setze mich an den Küchentisch und schneide mit einem Messer ein Muster auf die Wachstischdecke. »Ich weiß noch, wie der Bernd, er ruhe in Frieden, Silvester 1990 zu mir kam. Er schien doch sehr geknickt und sagte: ›Das, was mir am meisten zu schaffen macht, was ich am meisten bereue, das is ja nicht die Stasi, sondern dass meine Mutti nicht mehr erleben konnte, wie ich Erster Sekretär geworden bin.‹«
    »Das hat er gesagt? Der war bei der Stasi?«
    »Jetzt isser ja tot, Gudrun.« Er tätschelt auf die schmale Schulter meiner Großmutter und geht hinaus. Sie dreht das Radio etwas lauter und wäscht wortlos das Geschirr. Stasi, denke ich, so hat er gar nicht ausgesehen. Die eigentliche Pointe eines totalitären Systems ist, dass die Täter banal sind, |115| sie sind Beamte. Ein totalitäres System verlangt keine Bosheit. Sie ist sogar störend, weil sie so etwas Eigensinniges hat. Aber die Täter im Staat sind die, die einen Stempel und ein Stempelkissen besitzen.
     
    Weltwetter im Radio: Singapur, Moskau, Paris. Nichts steht so genau unter Beobachtung wie der Himmel. Wie die Wolken ziehen.
    Der Himmel hängt tief heute. Wir winken aus dem Rückfenster, bis das Auto in die Landstraße einbiegt. Das ist ein festes Ritual geworden, eine Weile umgedreht winken nach der Abfahrt, als sei das so geregelt worden irgendwann.
    Was haben wir eigentlich heute erkennen können, was erfahren und nicht verstanden? Gehören wir zu den Guten? Und wer sind die Guten? Diese alten Männer, der Großvater, sein kettenrauchender Bruder, der Sohn Egon, wenig älter als mein Vater, der gleich nach seiner Kellnerlehre anfing als persönlicher Sekretär des Rates des Kreises und da Einfluss hatte. Worauf, das wusste keiner so recht, aber Wind wird da immer noch drum gemacht.
     
    Auf dem Nachhauseweg hinten auf der Rückbank lachen meine Schwester und ich über das Wort »Kirchenmäuse« und wir lachen über Onkel Egon: wie gaga dieser Onkel ist. »Stasimäuse!« Hahaha! Auch gut. Zum Totlachen das Wort.
    »Also das nervt langsam«, sagt mein Vater zu meiner Mutter.
    »Seid ihr jetzt still«, sagt sie zu uns.
    »Okay«, sagen wir und lachen und flüstern uns jetzt die Witze zu.
    »Ruhe!«
    |116| »Wir sind ruhig, darf man jetzt nicht mal flüstern?«, fragt Birgit, die hinter meinem Vater sitzt.
    Im Radio gibt es die Wetteransage. Auch das internationale Wetter wird angesagt: Singapur, Moskau, Bangladesch, Peking.
    Birgit zieht sich die Augen wie ein Chinese zur Seite. Wir lachen.
    »Hör auf, gegen den Sitz zu treten«, sagt mein Vater.
    »Ich berühre deinen Sitz nicht.«
    »Sie berührt deinen Sitz nicht«, sage ich.
    »Ich merke es doch.«
    »Sie berührt deinen Sitz nicht«, sagt meine Mutter.
    »Ich sag es das letzte Mal«, sagt mein Vater. »Noch ein Wort.«
    »Ich habe Hunger.«
    »Mir reicht’s jetzt.«
    »Du hast doch gerade etwas gegessen, Mischa«, sagt meine Mutter.
    »Ich habe auch Hunger.«
    »Wir sind gleich zu Hause.«
    »Kann ich die Toffifee aufmachen?«
    »Es gibt heute für keinen mehr was Süßes«, sagt mein Vater.
    »Mama?«, sage ich.
    »Ihr habt Papa gehört.«
     
    Zwei Sekunden Ruhe. Dann schaue ich meine Schwester an, und sie lacht und ich

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