Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Hünniger
Vom Netzwerk:
Dorfbewohner hatte sich nach 1990 halbiert. Sie schwankte jetzt zwischen 102 und 99, je nach Jahreszeit, denn hier im Dorf sterben die alten Leute lieber im Sommer. Als der Anwalt ins Dorf kam, gab es einen Bevölkerungsanstieg von drei Prozent. Er kam mit seiner Frau und seinem zweijährigen Sohn. Wir lernten ihn im Sommer kennen, als er in das Bauamt meiner Mutter kam und noch auf der Schwelle erschrocken die Tür ansah und |122| sagte: »Warum gibt es denn hier gepolsterte Türen?« Ich blickte von meinem Malblock auf. Den Panzer, in dem eine Familie wohnt, auf mehreren Etagen, mit vielen geräumigen Zimmern, hatte ich fast fertig gemalt und fragte mich, was denn so komisch war an der weißen, gepolsterten Tür und ob das jetzt was Besonderes war. Dann musste ich zum Zahnarzt.
    Meine Mutter zeigte ihm in den nächsten Wochen die leeren Häuser und Grundstücke in Dasdorf und Treustedt. Und bald zeigte Hans meinem Onkel Egon und vielen anderen verängstigten Parteimitgliedern, wie man den Fragebogen zu Parteimitgliedschaft, Stasimitarbeit usw. so ausfüllt, dass man eine neue Anstellung bekommt. Egon, nicht mehr Versorgungsabteilung des Kreises, wollte in die Vertriebsabteilung von Coca-Cola.
    Sie wurden Freunde, Egon und Hans. Hans besuchte Onkel Egon in der Plattenbauwohnung. Vom Küchenfenster aus habe ich sie manchmal unten neben der Klärgrube am Klettergerüst ein Bier trinken sehen. Sie lehnten an den Stangen mit dem abgeplatzten Lack – der fremde Mann mit dem beigekarierten Sakko, dem weißen Hemd, den schwarzen Locken, der Nickelbrille und einer Krawatte und der Mann mit dem Seitenscheitel, grau schon die Haare, im Mund eine Zigarette, f6 ohne Filter, der Anzug auch grau. Einmal ging ich nach unten zu ihnen und Egon fragte, ob meine Eltern da seien. »Ja, ja, die sind doch immer da, auf dem Balkon.«
    Hans: »Was für ein klaustrophobisches Land. Aber du brauchst eben ’ne Mauer, wenn du anders bist. Ich meine, jetzt huldigen die hier dem wilden Kapitalismus. Und ihr redet euch ernsthaft ein, dass Kommunismus ungerecht ist und falsch. Leute!«
    |123| Egon: »Tja.«
    Dann holte Hans sein Diktiergerät heraus und diktierte: »Frau Engler, legen Sie mir bitte die Akten für kommende Woche raus und antworten Sie Frau Pätzold von der Hoch-Tiefbau GmbH wie folgt: …«
    Egon: »Ihr Wessis.«
    Hans: »Ha.«
    Oben umarmten meine Eltern Hans und Egon und redeten, und ich fragte meine Mutter: »Mama, was ist ein Wessi?«
    »Es gibt keine Wessis.«
     
    Später wurden Hans und Egon zur Tür gebracht. Wir hörten, wie meine Mutter das Schloss von innen verriegelte, wie sie die Kette vorschob und in die Küche ging.
    Der Himmel war so groß wie immer, er wurde rot, orangefarben, Zuckerwattewolken zogen sich so durch. Meine Schwester und ich gingen auf den Balkon. Mein Vater saß da und rauchte. Nein, Quatsch, er rauchte gar nicht. Das bilde ich mir bloß ein. Er hatte nie eine Zigarette in der Hand. Meine Mutter rauchte Zigarren. Manchmal. Wenn Jagd oder Kirmes war. Er saß nur da und starrte vor sich hin und hob sein Bierglas, eins von den bedruckten, auf dem »Jever« oder »Wernesgrüner« stand oder ein Auto drauf war. Die wurden nur zu besonderen Anlässen aus der Schrankwand geholt und wenn Besuch kam natürlich. Birgit und ich küssten ihn auf die Wange und sagten: »Träum was Schönes.« Er sah gut aus. Er sagte nichts. Er brummte. Er hatte mit Hans besprochen, was geschehen war. Die Wende und so. Als wir ihn küssten, trat meine Mutter auf den Balkon, sie hatte auf einem weißen Tablett Bier mitgebracht und eine Flasche Becherovka und zwei kleine Gläschen. Sie stellte das |124| Tablett ab. Dann umarmte sie uns, küsste uns auf den Mund, und wir gingen in unser Zimmer.
    In meiner Erinnerung sehe ich die beiden, wie sie in den roten Himmel schauen, wie im Kino. Ein Bussard fliegt im Kreis, bleibt in der Luft stehen und kracht im Sturzflug Richtung Erde. »Was für ein Drama jeden Tag um uns herum«, sagt mein Vater und lächelt. Ich höre die brummende Stimme von Stefan Meyer, unserem Nachbarn, und den Kindern, die noch wach bleiben dürfen, ich sehe meine Mutter ihre Hand auf die Schulter meines Vaters legen.
    Die Rollläden aus braunem Papier sind heruntergezogen, und das ganze Zimmer leuchtet orange. Es ist warm und hell, und wir liegen beide in meinem Bett, weil wir sowieso nicht schlafen können. Wir hören ein Klopfen, Pfeifen, immer wieder. Klopft jemand an eine Scheibe? Pfeift da die Mutter?

Weitere Kostenlose Bücher