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Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Hünniger
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auch. Dann sagt sie: »Na, du Kirchenmaus.«
    Und dann fuchtelt die rechte Hand meines Vaters nach hinten, mit der linken hält er das Steuer. Es ist Nacht, die Strecke kurvig, mit der Hand erwischt er uns nicht, aber wir |117| landen auf der linken Spur und er bremst noch, bevor wir in die Leitplanke knallen.
    »So«, sagt er und seine Stimme zittert. »Wenn wir zu Hause sind, wird versohlt. Aber das werdet ihr euch merken. Ein für alle Mal.«
    Jetzt schaut jeder aus seinem Fenster und weint.
    Als wir zu Hause ankommen, hoffe ich, dass er es vergessen hat oder die Wut verflogen ist. Aber er ist gar nicht wütend, er schreit auch nicht. Er sagt: »Wer will zuerst?«
    Wir treten an.

|119| 6. Westdeutsche
    Ein Mann kommt in ein Dorf. Hinter einem Tor bellt ein Hund. Im Giebel geht ein Fenster auf. Für einen Moment blitzt darin das Sonnenlicht auf. Der Mann steht vor einem Benz. Die Frau am Fenster verschränkt die Arme auf einem Kissen, das sie auf die Fensterbank gelegt hat. Der Mann wartet. Er schaut zur Frau hoch. Läuft auf den kleinen, runden Platz. In der Mitte eine Kastanie, rundherum alles neu gepflastert. Er hält ein großes Mobiltelefon an sein Ohr. Die Frau am Fenster, das ahnt der Mann nur, zieht die Augenbrauen hoch. Große Augen macht man hier. Er brüllt ins Telefon: »Thüringen ist das einzige Land, in dem die Frauen No sagen und Ja meinen!«
    Mit der Beiläufigkeit eines Könners bricht ein Junge den Mercedes-Stern vom Auto und läuft davon.
     
    Sieben Jahre später erlebt Onkel Egon etwas, was ihm in 31 erfolgreichen Berufsjahren in der DDR nicht widerfahren ist. Kaum zu glauben. Wenn er normalerweise den Fernseher anschaltet und die bunten Lichter der Shows ihn und seine Frau erleuchten und die vertrauten Stimmen der Moderatoren sie umarmen, bleibt sein Leben draußen. »Läuft doch nur Dreck im Fernsehen«, sagt er gern, »aber irgendwie muss man ja |120| den Kopp abschalten.« An diesem Abend ist sein Leben Teil des Fernsehens. Eine Flasche Rotkäppchen-Sekt, halbtrocken und kalt, wird fünf Minuten vor der Sendung mit großem Knall geöffnet. Er setzt sich auf das Sofa. Er seufzt. Er nimmt die Fernbedienung und drückt mit dem Zeigefinger auf den großen roten Knopf. Der Bildschirm des neuen Grundig-Fernsehers schnappt den MDR heran.
    Prösterchen. Die Gläser klirren, es sind die Kristallgläser aus der Vitrine in der Schrankwand. Ein kleiner Schluck wird genommen, das Glas auf die grüne, reich gemusterte Tischdecke abgestellt. Sie ist neu. Ein Schnäppchen. Der Moderator hat einen Zopf. Seine Sendung heißt »Mach dich ran«, in 48 Stunden werden hier die Probleme der Bürger gelöst, also Nachbarschaftsstreit, zu wenig Bushaltestellen, marode Spielplätze oder, wie hier, bei uns im Dorf, in dem meine Mutter so viele Baugrundstücke und Bauanträge kennt, im Dorf, wo es eine Dorfkneipe gibt und der Fußballplatz bislang eine grüne holprige Fläche war, auf der unser Anwalt Hans aus Frankfurt am Main nicht gut spielen konnte, und das ein Problem war und man Probleme löst, sagt Hans jedenfalls: »Probleme löst das Fernsehen.« Onkel Egon und unser Anwalt Hans sind die erfolgreichen Macher. Der SED-Funktionär und der Westdeutsche. Sie verstehen sich gut. Sie machen was her. Sie sind wer. Und wenn Onkel Egon jetzt auf den Bildschirm schaut, sieht er sich selbst. »Da bist du, im Fernsehen. Unwahrscheinlich«, sagt Tante Rosi. »Jetzt mal den Schnabel halten«, sagt Onkel Egon. Und dann hört Onkel Egon Onkel Egon zu.
    Was man in der Szene nicht sieht, ist, dass ich hinter der Kamera und dem Moderator stehe. Vor zwei Monaten.
    »So, Aufnahme«, sagte der Moderator.
    |121| »No.«
    »Wie heißen Sie?«
    »Egon.«
    »Na gut, Egon. Wie fühlen Sie sich mit dem neuen Fußballplatz?«
    »Gut.«
    »Können Sie etwas mehr sagen?«
    »Ja, gut.«
    »Noch etwas mehr.«
    »Ja, ja, wollte ich doch gerade.«
    »Na gut. Also los.«
    »Ja, also, wir freuen uns, dass wir mit vereinten Kräften und dank der MDR-Fernsehstation …«
    »Das können Sie weglassen.«
    »Fußballplatz ist schon toll.«
    »Sagen Sie mal, dass Sie einfach glücklich sind.«
    »Ich bin einfach glücklich.«
     
    Auch die Lokalzeitung hatte die Dorfinitiative mit Berichten begleitet und Hans Müller interviewt. »Die Ereignisse überschlagen sich« war eine Überschrift.
    Aber die Ereignisse hatten sich eigentlich kaum überschlagen. Hans war einfach in ein Dorf gezogen, wo es viele billige Häuser gab, denn die Zahl der

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