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Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Hünniger
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Sachbearbeiterinnen der Bauämter und Banken versorgte er mit Blumensträußen. Auf Dienstreise war er nicht allein.
     
    Dann gehen alle in die Dorfkneipe. Lucian, David und Jule und ein paar Leute aus unserem Viertel, auch Stefan Meyer und seine Familie sind gekommen, um auf der braunen Erde einen Fußballrasen auszurollen. Wir gehen in die Kneipe. In der Dorfkneipe wird schon getanzt. Jemand gibt uns ein Halbliterglas Bier. Wir schütten es runter. Mit einem Tempo wie unbeaufsichtigte Schüler auf Klassenfahrt. Wir sind unbeaufsichtigte Schüler. Wollen wir tanzen? Wir tanzen. Unbeholfen. Sofort heftig schwitzend. 99
Luftballons.
Auch Nirvana, später. An der einen langen Tafel, die es gibt, reden die Alten sich die Köpfe rot, als gäbe es Kriegsgefahr.
    Unter dem Druck einer als feindlich empfundenen Welt legte das Dorf alle wichtigen Belange in Anwaltshände: Verantwortung, Vermögen, Freizeit. Das Eindringen des Westdeutschen war als Aufwertung empfunden worden. Er passte auf sie auf. Denn draußen war der Feind, und der glaubte |131| jetzt sogar Stasiakten. Das müsse man sich überhaupt einmal vorstellen: Nun werde der Stasi geglaubt. Alles, was die kritzelten, würde wahr werden, Wahrheit sein. Die Stasi! Wer keinen Täter nennen konnte, musste selbst einer sein, und wer nicht einmal zum Täter ernannt wurde, hatte ja gar keine Geschichte, jedenfalls keine interessante. Zwei Fragen galt es einander zu stellen: Hast du eine Akte? Warum nicht?
    Die Stasiakten werden gehandelt wie Wertpapiere. Sie sind der Seismograph einer Karriere und unantastbar, wie von objektiven, uneigennützigen Beobachtern verfasst. Als sei die Stasi eine Protokollstelle gewesen. Aber es waren Verbrecher, Unterdrücker, und zwar kraft der Information.
    In der Dorfkneipe schüttelt der Wirt hinter dem Tresen den Kopf: »Kaum zu glauben, holt der Hans hier das Fernsehen her. Das kann nicht sein. Kann man sich einfach nicht vorstellen. Wo gibt’s so was? Einfach so einen neuen Fußballplatz.«
    Hans setzt den Bierkrug an und schluckt, gluck, gluck, gluck, gluck, gluck, seufz. »Wisst ihr Ossis was? Ihr denkt immer nur ans Verlieren. Kein Wunder, dass ihr alles verloren habt, in euren Köpfen gibt es so etwas wie Gewinnen nicht. Ich habe manchmal das Gefühl, dass Erfolg überhaupt niemals in Erwägung gezogen wird. Ihr habt Angst vor dem Risiko und riskiert damit alles.«
    »Wir haben nur keinen Bock, die gleichen Arschlöcher zu sein wie ihr«, sagt der Wirt.
    »Ich bin kein Arschloch.«
    »Nööö, also der Hans ist kein Arschloch, das kannste so nicht stehen lassen.«
    »Das Bier ist zu warm«, sagt Hans.
    |132| »Komm, wir fahren in die Stadt und besaufen uns«, sagt Jule. »So langweilig.«
    David und Jule haben beide einen Simson-Roller, der es bei freier Fahrt auf 55 Stundenkilometer bringt. Im Sommer kleben kleine Fliegen am Visier. Wir fahren durch die Nacht, über die Landstraßen, durch Kastanienalleen oder über das Kopfsteinpflaster vor der Einfahrt nach Buchenwald. Wir rasen durch die Goetheallee, an der Post und am russischen Friedhof vorbei, bis ans andere Ende der Stadt, und da setzen wir uns irgendwohin und haben vergessen, etwas zu trinken zu kaufen. Wir steigen auf den Roller, es geht weiter, dann stehen wir auf dem Marktplatz und gehen in den C-Keller, gleich rechts neben dem Hotel Elephant, da ist immer wer, Punks, Studenten, da kennt man alle, da trinken wir eine Vita Cola und Bier. Dann gehen wir in die Gerberstraße, da gibt es ein besetztes Haus, da ist es richtig abgefuckt, da kostet ein Teller Spaghetti 2 Mark 50, wenn man hochgeht, gibt es Matratzen, auf denen liegen zwei Heroinjunkies. Wir treffen einen komischen Typen, der verkauft uns Pilze. Essen, Wasser trinken. Wir gehen auf die Straße, eine runde Mülltonne brennt, Punks sitzen auf Bierbänken drum herum und Frauen in Hanfkleidern und Perlen im Haar.
     
    Die nächsten Monate sind genauso wie die letzten. Geographie haben wir bei Frau Schreck, sie träumt davon, mit dem Motorrad durch die USA zu fahren, mit ihrer Mutter. In Geschichte wird ein Ausflug geplant: »Auf nach Buchenwald.« Sagt Herr Stubendorff. Wir stöhnen.
    »Andrea, du bereitest bitte mit David zusammen einen kleinen Vortrag vor.« Ich bin beruhigt. David ist ganz gut darin. Jedenfalls seit er ein Referat über Kafkas
Verwandlung
|133| verhauen hat, weil er die ersten zwei Seiten übersprungen hatte, weil da ja nie was passiert. Bis zum Referat hat er sich über die Geschichte

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