Das Paradies
Jugendweihe ist nichts für Atheisten, es sei denn, Atheisten feierten mit Kinderchor und Blaskapelle im Volkshaus ihren Eintritt in den Atheismus, und das tun sie ja nicht. Soweit ich weiß.
Im Volkshaus wohnt die DDR, deren Vergoldung mit Fernsehshows und lustigen Büchern gerade erst begonnen hat. Inzwischen hat sie die Fata Morgana eines süß-unbeholfenen Staates, in dem es keine Bananen gab. Was mich betrifft, interessiere ich mich ausschließlich für das Geld. Das bekommen wir von den Verwandten, die zahlreich eingeladen sind. Was aber überhaupt nicht einleuchtet, ist die Tatsache, dass die Jugendweihe als ein sozialistisches Ritual überlebt hat, dass sich aber kein Schwein für den Schriftsteller Peter Hacks interessiert oder wenigstens für Filme wie
Paul und Paula
oder Filme von Konrad Wolf. Solche Sachen sind wie vom Erdboden verschluckt, und ich selbst bin da nur durch Zufall drauf gestoßen, weil um 2 Uhr morgens mal im MDR so eine Doku lief.
|149| Nadine sagt: »Ich hab die Tarotkarten dabei.«
Jacqueline sagt: »Ich hab mir geschworen, ich hör auf mit Rauchen, wenn die drei Mark kosten, dann, wenn sie vier Mark kosten und jetze sind’s fünf. Hallo?«
Simon sagt: »Na, ihr Freaks. Übrigens, heute Geburtstag vom Führer. Sag mal, was sind das denn für Botten?«
Ich: »Reno.«
Christian: »Gib mal.«
Ich ziehe einen Schuh aus und gebe ihn ihm. Keine Ahnung, warum ich so dämlich bin, ich würde gern dazugehören. Christian nimmt Anlauf. Der goldene Schuh fliegt in einem wunderschönen Bogen, blitzt einen Moment in der Sonne und landet irgendwo im Acker. Lachen sich alle kaputt. Ich bin eigentlich dankbar, weil: goldene Schuhe, keine Ahnung, was ich da gedacht habe, wahrscheinlich hab ich mich auf den Rat der Verkäuferin bei Reno-Schuhdiscount verlassen. Barfuß vor hundert Menschen auf die Bühne zu gehen, das ist, wie im Ethikunterricht seine Hobbys vor der Klasse pantomimisch darzustellen. Kackepissefotzearschschwimmen? Man muss jetzt so tun, als ob man’s nicht merkt.
Simon klopft Christian auf die Schulter. Simon hat keine Glatze, er hat so eine schneidige Heinrich-Himmler-Frisur, wasserstoffblond gefärbt, und trägt normalerweise Dr. Martens, eine graue Bomberjacke von Alpha Industries, Polohemden von Fred Perry und eine kleine runde Brille von Fielmann. Er ist überdurchschnittlich gut ausgestattet. Was ihn zu einer Art Anführer macht. Er ist meist gut gelaunt, und die Lehrer lieben ihn. Die meisten haben nur die Fliegerjacke von Alpha Industries. Am Tag der Jugendweihe trägt er einen cremefarbenen Anzug mit schwarzen Nähten, |150| der nach Eisverkäufer aussieht. Der Neonazistil ist der klassischste, den man im Osten finden kann. Ziemlich teuer, gute Qualität. Jedes Jahr gleich, keine Mode, es ist eine Uniform. Der Rest kauft bei H&M oder bestellt aus dem Otto-Katalog. Fast alle haben wir die gleichen Jacken und Fruit of the Loom-Pullover. Individualität ist nur eine kurz anhaltende Fiktion. Den durchschnittlichen Neonazi gibt es nur, weil er sich anders kleidet. Meine Theorie ist, dass der Neonazi nur eine Moderichtung der Neunziger im Osten ist. Ich meine damit nicht die Extremisten und Gewaltprolls aus der Hauptschule, die jedes Jahr Demos gegen Juden und Homosexuelle veranstalten. Ich meine nicht diejenigen Glatzen, denen man ins Hirn geschissen hat, die uns am Abend mit Baseballschlägern von der Bushaltestelle an hinterherlaufen. Wir haben uns nur aus Angst in die Hosen gemacht, einen fleißigen Gemüsevietnamesen hat es sein Gehirn gekostet, das lag auf der Straße. An unserem Dorfgymnasium trägt praktisch jeder Junge mit spätestens 14 Alpha Industries. Das nimmt man genau. Billige Kopien gelten nicht. Auf den Dörfern hat das nichts mit Feindbild zu tun. Es ist erst mal nur die Randzonenmode für den Mann. Identität, die man annimmt, wenn man sie anzieht. Unsere kleinen Neonazis unter Simon haben Brillen und Wirbel am Hinterkopf. Sie mögen Mathe. Während ihre Väter immer noch den Verlust ihrer Männlichkeit im Vergleich zu ihren westlichen Pendants betonen, werden die Söhne, um gar nicht erst angezweifelt zu werden, äußerlich gewaltbereit mit Stahlkappen in den Schuhen. Mode als Verteidigung.
»So, Alter, viel Spaß aufm Acker. Den holste jetzt wieder zurück. Spinnst wohl!« Dass Simon, in seiner Bomberjacke |151| und mit seiner Heinrich-Himmler-Frisur, seinem Untergebenen befiehlt, meinen Schuh vom Acker zu holen, auf dem, es ist ja Frühling,
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