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Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Hünniger
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gerade ein zweites Mal die Gülle ausgefahren wird, ist überhaupt nicht mehr merkwürdig. Ich kann es aber immer noch nicht fassen. Seit einem Jahr geht das so. Damals klingelte das Telefon, und meine Mutter teilte uns mit, dass ihre Mutter tot sei. Aha. Selbstmord. Aber sie war schon alt. Und immer schwierig. Hatte es auch schwer, als Adoptivkind, als Jüdin, überhaupt irgendwie.
    Da saßen sie: die schönen, tragischen Hünniger-Kinder, nahmen jetzt in der ersten Reihe Platz.
     
    Simon sitzt in Geschichte neben mir, und als der Geschichtslehrer fragt, wie es dazu kommen konnte, dass die Juden verfolgt werden konnten, da sagt Simon, dass die Juden halt auch immer so geldgierig seien und ehrgeizig und man sie an komischen Namen und an der großen Nase erkenne. Und dann guck ich Simon an und Simon mich und Simon sagt: »Ja, nicht du, die anderen. Also früher. Manche von ihnen. Glaube ich.«
    »Ne, Simon, das stimmt nicht.« Seine Mutter ist Deutschlehrerin, Frau Ostermann.
     
    Volkshaus: Christian stapft im Güllefeld herum und sucht einen goldenen Schuh. Opas rücken an, Schiebermützenmeer, graue Anoraks, Hände am Rücken weggesteckt. Sie sehen immer ein bisschen aus wie teilweise gelähmte Triceratops. Auf dem Asphalt liegt etwas, das da nicht hingehört. Mit dem rechten Fuß ganz bisschen Anlauf genommen und über den Bordstein gestupst, so, is wieder sauber, Fuß auf die dritte Stufe der Treppe stellen und mit dem Taschentuch |152| Schuh abreiben. Ordnung muss sein. Haus betrachten, guck an. Wunderschön. Was wir da wieder geschafft haben. Volkshaus, Kirche des Ostens. Es ist, als hätte der Sozialismus das religiöse Gefühl irgendwie absorbiert, und was von ihm blieb, das sind nun diese Betbrüder. Übel. Diese Schmachterei. Na gut, eines Tages werden wir wie sie sein. Ist das Leben nicht eigenartig?
    Frau Reiher nennt uns Jugendweihe-Jugendliche, klingt wie ein Amtsbegriff. Frau Reiher hat das eingeführt, sie hat für alles eine Art Amtsbegriff. Jugendweihe-Jugendliche, ehrenamtlich befugt, ich verspüre den starken Wunsch, auf den Acker zu laufen und zu kotzen.
     
    Meinem Großvater geht es auch so, er kommt deshalb nicht. Vor ein paar Jahren war Schlachttag auf dem Hof meiner Großeltern, und an dem Tag habe ich alles verstanden. Die Ostdeutschen, ihren Glauben, Morphium, wie man ein Kaninchen schlachtet und die Stasi.
    Als er ganz früh am Morgen dem Kaninchen mit der Hand das Genick brach, kam ich zufällig aus dem Haus. Bemerkt hat er mich nicht. Er stand mit dem Rücken zu mir, ich konnte nur das Kaninchen sehen. Ein Bluttröpfchen hing an der Nase. Dann hat er das Tier an den rostigen Nagel gehängt: Messer, Fell am Kaninchenschwanz aufschneiden, Fell zum Kopf hin abziehen. Bauch auf, Gedärme fallen in den Eimer. Der Eimer ist grün. Rote, dicke Schnur hängt herunter, wird abgeschnitten, fällt in den Eimer. Grüner Eimer wird an die Seite gestellt. Kaninchen ganz dünn geworden. Blut krabbelt zum Gully.
    »Huch«, sagte mein Großvater, als er sich umdrehte, mich bemerkte, sich dann hinunterbeugte und im grünen Eimer zu |153| wühlen begann. »Na, was sagst du dazu? Eine schöne Leber.« Auf dem Land werden Tiere geschlachtet. In der Stadt werden sie gestreichelt. Auf dem Land hat das Kaninchen den Job, fett zu werden. In der Stadt hat das Kaninchen einen Namen.
    Auf dem Land ist die Nacht schwarz. Nichts trennt dich von Tieren. Über den Hof rennt ein Marder und wühlt in den neuen Forsythien, Katzen. Hunde bellen irgendwo. Dann knacken die Balken. Das Holz arbeitet, sagt Opa. Scheunen mit Fachwerkmauern. Eine Festung. Morsche Balken, rostige Maschinen, altes Spielzeug, Matratzen. Herumgeschlichen, zitterndes Licht aus der Taschenlampe, etwas gefunden, vergessen, was. Draußen wachsen die Weintrauben, drinnen die Schweine. Im Sommer steigen wir auf den Heuboden, beobachten von dort den Hof, obwohl da gar nichts zu beobachten ist, die Katze vielleicht. Hinter den Scheunen die Hühner, der Gockel pickt Birgit in den Arsch. Land eben.
     
    »Kräfte, die wir nicht kennen …« Diese Worte darf man auf dem Hof nicht aussprechen, ohne dass man von einem Hohngeschrei überfallen wird. Es gibt keine Kräfte, die wir nicht kennen. Bei dir piept’s wohl.
    Auf dem Bauernhof anwesend: Großvater, Großmutter, Onkel, Tante, meine Cousine Carolin, zwei Katzen, ein Schwein, sechs Kaninchen, Hühner.
    Carolin hat eine Zahnspange. Die legt sie am Abend in eine rosa Plastikdose. Das ist etwas

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