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Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Hünniger
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Tanzkapellen, das, was »noch erlaubt« ist. Heute gibt es Jugendweihe. Wir sind 14 Jahre alt. 1999. Am Morgen lege ich die einzige Schallplatte auf, die ich besitze, auf einem aus Sentimentalität gekauften Plattenspieler. Die Platte ist aus der Stadtbibliothek ausgeliehen. Unsere Englischlehrerin |146| Dr. Andrea Linhart hat uns auf Janis Joplin gebracht. Sie liebt Janis Joplin. Wir haben
Summertime, Mercedes Benz
und
Bobby McGee
ein ganzes Jahr behandelt. Leistungskurs. Auf dem Lehrplan stand es nicht. Janis Joplin.
     
    Meine Mutter möchte
Mercedes Benz
und
Summertime
auf eine Kassette überspielt haben. BASF-Kassetten sind die besten. Ich mache für alle Mixtapes: hauptsächlich Hendrix, Joplin, Cash. Rest vergessen. Knüpfe an eine Zeit an, die ich verstehen kann.
Take another little peace of my heart …
    Und vor dem Volkshaus, groß, grau, Grabstein, stehen Mädchen in Ballkleidern und daneben, eigene Gruppe, dünne Jungs in Anzügen mit breiten Schulterpolstern, als hingen sie noch am Bügel. Ich trage ein cremefarbenes Kostüm aus dem Otto-Katalog, 70 Mark. Meine Schuhe sind golden und haben Klettverschlüsse, Reno, 20 Mark. Die Strumpfhose hat eine Laufmasche. Das ärgert mich. Bitte seht mir nicht an, woher ich komme. Lasst mich fortgehen aus der Jugend. Lasst mich in Ruhe.
Try just a little bit harder.
    Immer wenn ich in einen Supermarkt ging, wurde ich von einem Ladendetektiv verfolgt. Ich fühlte mich schon durch den Umstand beschämt. Ich konnte mich auch nicht mehr konzentrieren. Einmal verfolgte mich ein Ladendetektiv von der Salatbar über den Käsestand bis zur Fischtheke. Das war in einer Karstadt-Lebensmittelabteilung, da, wo man wirklich aufpassen muss, was man kauft. Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Nicht mehr rechnen. Ich musste rechnen, weil es die letzten 20 Mark waren, die ich hatte. Ich bin fast wahnsinnig geworden. Man versucht dann so breitbeinig und luftig zu laufen, wie es nur geht, wie jemand, der nichts zu verstecken hat. In der Süßigkeitenabteilung fummelte er |147| hinter mir an den Nimm Zwei herum. Er hatte keinen Einkaufskorb und Nimm Zwei kaufte hier schon längst niemand mehr. Ich glaube, es war an einer Kühlbox, in der frische Ravioli lagen, als ich ihn angesprochen habe. »Bin ich denn so auffällig?«, fragte ich ihn. Nein, nein, sagte er, alles ganz zufällig, Einbildung. Ich glaube, er war neu. Jedenfalls dachte ich, dass ich ihm gern eine reinhauen würde, einfach nur weil er mich für so dumm hielt, einerseits, andererseits, weil er offenbar dachte, dass ich nicht weiß, was ganz unten ist. Dass ich wegen meiner billigen Turnschuhe und des grauen Fruit of the Loom-Kapuzenpullovers der Prototyp eines Diebes sei. Ich hatte Angst, es wirklich zu sein. Ich wollte besser sein. Ich wollte nicht von einem Ladendetektiv verfolgt werden. Vor allem dann nicht, wenn man wirklich konzentriert rechnen muss, was man kauft. Ob das der Grund ist, warum man sich auf Markenklamotten verlässt? Der Ladendetektiv verfolgt einen dann nicht, nehme ich an.
     
    Es ist April 1999, ein Nachmittag, an dem der Nebel verschwindet, weil es jetzt regnet. Das Volkshaus ist auf einem Hügel gebaut. Warum auch immer. Drum herum Felder. Von den oberen Stufen der Treppe schaut man in das Tal, ein Dorf, rote Dächer, etwas weiter ein Kirchturm, alles normal.
    Ein Bus hält vor dem Eingang, Türen auf, Türen zu, niemand steigt aus, niemand ein. Wer sollte hier aussteigen, also dort einsteigen, um hier auszusteigen, wo es nichts gibt außer der Bushaltestelle? Trotzdem fährt dreimal täglich ein Bus hier hoch. Jedenfalls: Die Bushaltestelle ist neu, aus Glas.
    Busfahrer sind hier entweder auf eine geisteskranke Art unfreundlich oder depressiv. In unserem Schulbus hat der Fahrer einen Zettel an die Schutzscheibe hinter seinem Sitz |148| geklebt, auf dem in Regenbogen-Clipart-Typo zu lesen ist: »Das Leben ist nicht nur schlecht, es hat auch seine Schattenseiten.« Da starrt man morgens drauf und überlegt, ob der Satz Sinn ergibt, und darf dann in die Schule. Zynismus wird oft mit Intelligenz verwechselt. Und die neuen Bushaltestellen sind doof. Egal.
     
    Da kommt Frau Reiher. Sie ist klein, trägt ein graues Kostüm. – »Wir sehen hier das Modell Jasmin, ein elegantes Kostüm im Arbeiterlook für die vielseitige Frau, pflegeleicht elegant. Auch Sie können frühlingsfroh aus der Spezialverkaufsstelle HO Stalinallee, Berlin, herauskommen. Nur … hineingehen müssen Sie erst einmal.« –

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