Das Paradies
Geschichte, fragst du als Erstes, ob sie wahr ist. Ich weiß nicht, wie das ist, zu glauben. Ich würde gern an etwas glauben. Wer glaubt, ist bescheuert. Es ist schwer, zu glauben. Würde ein Ufo auf dem Feld landen, würden wir vorbeigehen oder wir würden glauben, bei
Versteckte Kamera
zu sein. Hey, Leute, hier verarscht uns wer. Das Fernsehen oder das Wetter. Oder zu viel Kaffee getrunken oder sonst was. Ich denke an so etwas wie das nächste Jahr. Wenn ich beten könnte, ich würde beten.
Als wir vom Friedhof zurückkommen, steigen meine Eltern aus ihrem Opel Vectra aus, und Birgit und Michel sind schon bei den Kaninchen und streicheln sie.
|157| Es sind auch andere gekommen. Heute ist Schlachttag, da wird das Schwein mit einem Bolzenschussgerät in den Kopf geschossen, und dann wird es mit kochendem Wasser übergossen, so dass man die Borsten abreiben kann. Und dann alles so wie beim Kaninchen. Es sind aus dem Schlachthaus zwei Schlachter gekommen. Sie essen schon Kuchen. Zwei alte Männer sind da, wir sagen Onkel, sind aber nicht verwandt mit ihnen.
Meine Tante hat schon ein Buffet aufgebaut: ein Berg Schinkenröllchen, ein Berg Hähnchenschenkel, ein großer Topf Chili con Carne, eine Pyramide Hawaii-Toast, sieben Bleche Kuchen, eine Schwarzwälder Kirschtorte.
Meine Mutter sagt: »Na, das wird heute eine große Runde.«
»Ja, wir sind acht Leute. Meint ihr, das reicht?«, sagt meine Tante. »Die Mutter isst ja sowieso nichts, die geht lieber beten. Deine Tochter schleppt sie nun auch schon mit.«
Meine Tante meint, dass uns der liebe Gott nicht schützen könne, wohl aber zum Beispiel das neue Geländefahrzeug mit Stahlstangen vor der Motorhaube. Logisch. Unfälle? Da würde der liebe Gott, selbst wenn er wollte, nichts dran ändern. Und wie ihr das auf die Nerven gegangen sei früher, der Gang zur Kirche und immer singen.
Viel Wichtigeres geschah nämlich auf Erden, im Dorf, auf den Straßen: eigenes Land, Pralinen, leise Autos, Landrover und Mercedes-Benz, die auf den Hof kamen.
Oh Lord,
harte Währung, harte Fakten. Der Hof ist gleich nach der Wende modernisiert worden, aber er sieht trotzdem noch historisch aus.
Wir durften im neuen Benz mitfahren. Aber uns ist gleich schlecht geworden. Es roch nach Gummi und Reinigungsmitteln. |158| Es wurden dann immer Kaugummis verteilt, bevor wir in eines der neuen Autos stiegen.
Die Feste werden so rauschhaft, als müssten wir etwas nachholen. Es gibt immer so viel zu essen, dass alle schon ziemlich dick geworden sind. Das neue Angebot muss man wahrnehmen, nichts unversucht lassen, für jede Neuheit aufgeschlossen sein. Schließlich hat man viel zu lange entsagen müssen und in einem Land des Wartens gelebt. Überhaupt absurd, erinnern sich die Erwachsenen schmunzelnd, dass es zwölf Jahre gedauert hat, bis ein Auto gebaut war. Dass einem schließlich beim Geknattere der ersten Fahrt die Tränen kamen und es sich anfühlte, als seien Geburtstag und Weihnachten zusammengefallen. Das kann man sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen, wie das war. Das war im Sommer 1993, als sich das keiner mehr vorstellen konnte.
Wir essen und alle reden über Geld. Und wie schlecht die Verhältnisse sind. Es gibt drei Themen am Tisch: Geld, Angebote bei Rewe und Krankheiten. Plötzlich hat jeder Zucker. Insulin ist längst so berühmt wie Micky Maus. Und wer nicht Diabetes hat, der hat praktisch keine Frisur. Gelenkschmerzen, Atemnot, Schwächeanfälle im Sommer, pfuschende Ärzte, falsche Medikamente und unvergleichlich hartnäckige Schmerzen werden wie Motorleistungen verglichen.
Mein Vater sagt, dass der Mangel nicht nur schlecht gewesen ist, dass Überfluss und zu viel Konsum blöd und faul machen und dass wir nur dafür gut sind, Geld auszugeben für Quatsch, den niemand braucht und der sich obendrein durch schlechte Qualität auszeichnet. DDR, das sei Vorfreude als Dauerzustand gewesen. Warten, ohne zu wissen, ob es sich lohnt – das sei doch wie Weihnachten gewesen.
|159| »Ach Peter«, sagt seine Schwester und zieht den Namen in die Länge, als müsse sie ihn über den Tisch reichen, »das ist doch gar nicht wahr.« Mein Vater verliert in drei Sekunden zehn Kilo Gewicht. Er hat nicht recht.
Jeder stochert auf seinem Teller, und es ist eine Weile still, bis meine Tante sagt: »Aber wir haben jetzt eine Fritteuse. Rommelsbacher FR 1.«
Nachdem das Schwein geschlachtet und Wurst gekocht war, saßen wir wieder am Tisch, und es gab ein neues
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