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Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Hünniger
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hieß Lore Wünsch. Wir sind dann nach Flensburg gefahren, da hat sie gewohnt. Und stehen vor einer Wiese. Wir sind gleich raufgerannt und haben uns hingelegt, es war noch warm und das Gras sehr gepflegt. Frau Blümchen sagte dann, dass da meine Großmutter liegt, unter dem Gras, und wir sind ganz schnell wieder aufgestanden. Sie übergab uns ein Kästchen mit Ketten und alten Schlüsseln und eine kleine Menora, die alt und wertvoll aussah, aber innen hohl und ganz billig war. Der Abschiedsbrief ist datiert auf den 3. Oktober 1994.
    Ich fand das Datum irgendwie kitschig. Sie war 1984 ausgereist, sie sagte, die DDR zu verändern, das wäre wie Revolution auf der Titanic. Sie war in der SED und hat für die Zeitung geschrieben. Die SED mochte sie nicht und hat sie irgendwann rausgeschmissen. Die Zeitung auch.
Move over.
    Meine Großmutter kam als jüdisches Hausmädchen 1931 schwanger nach Deutschland und putzte in Berlin bei einer bürgerlichen Familie. In dem Haus wurde das Kind geboren. Während des Krieges verschwand sie und versteckte sich irgendwo, keiner weiß mehr. Nach dem Krieg hatte sie ganz weißes Haar und besuchte die Familie und ihre Tochter, die nicht mehr wusste, dass das ihre Mutter war. »Lore, du siehst genauso aus wie dein Vater«, sagte sie, und Lore guckte den Mann |163| an, den sie für ihren Vater hielt. Da saß ein blonder Mann mit Scheitel, roten Wangen und blauen Augen. Ihre Augen waren schwarz und ihre Haare auch und ihre Haut ganz weiß.
Tell Mama.
     
    Als ich in die Aula des Schiller-Gymnasiums gehe, habe ich die Jugendweihe schon vergessen und wundere mich über gut angezogene Schüler, die jedenfalls keine Dr. Martens und auch keine Fred-Perry-Polohemden tragen. Das Schiller-Gymnasium ist in der Stadt, die Lehrer sollen in Ordnung sein. Es gibt hier sogar Schachgruppen und Astronomiegruppen. Etwa 500 Schüler laufen nervös vor dem Mikrofon auf und ab. Als er hereinkommt, stehen alle auf, um einen Blick auf ihn zu werfen. Ich glaube, wir bewundern ihn. Sein Name ist Revolution. Friedrich Revolution Schorlemmer.
    Ich habe mir ein Notizheft gekauft. Als er zu reden beginnt, wird es ganz still im Saal. Sprich zu uns, Friedrich Schorlemmer, sag, was es zu tun gibt, peitsch die Menge auf, halte uns in Bewegung. Gib uns einen Grund.
    Er redet dann über Gedichte. Okay. Er sagt: »Wenn Sie raus in die Welt gehen, haben Sie immer ein Gedicht im Kopf!« Und? War das alles? Ja, das war alles.
    Dann geht er von der Bühne, und die Lehrerinnen werfen sich auf ihn. Blumenstrauß. Orden.

|165| 8. Psychotherapeuten
    In diesen Tagen hat sich ein Mädchen in die Psychiatrie begeben. Ich habe sie kennengelernt, als ich sieben Jahre alt war und in der Kinderpsychiatrie in Weimar von Alpträumen geheilt werden sollte. Alpträume, an die sich nur die anderen erinnern können. Ich nicht. Sie war 14, wurde eingeliefert, nachdem sie fünf Paracetamol genommen hatte und, nach zwei Bieren, die sie dazu getrunken hatte, eingeschlafen war auf einer Wiese oben im Goethepark. Einer Wiese, die alle die Kiwi nennen, die Kifferwiese. Von dort oben konnte man auf das Goethehaus und ein paar künstliche Ruinen schauen. Wir freundeten uns an, nachdem sie einen Stuhl durch den Flur geworfen hatte, der einen zufällig in die Flugbahn hineinlaufenden Azubi traf. Sie bekam so etwas wie Zimmerarrest und musste eine Woche lang mit mir reden, weil wir im selben Zimmer lagen. Eine erzwungene, ewige Freundschaft. Manchmal sehe ich sie noch, aber nur sporadisch, nur wenn wir beide in der Heimat sind. Sie ist inzwischen Schauspielerin. Nicht der Typ Schauspieler, an den man immer gleich denken muss, ohne je so einen Typen gesehen zu haben. Außer im Fernsehen. Sie hat das Stühleschmeißen hinter sich. Sie ist anders, und sie hat ein Theater angezündet. Ihr Theater. Es ist nichts weiter passiert. Ein Feuer auf |166| der Damentoilette, dann hat sie den Bus genommen und ist in das Krankenhaus gefahren. Die psychiatrische Abteilung, sagte sie einmal zu mir, beunruhige sie wegen der Irren und der gelben Wände. In Wahrheit herrscht dort eine ausgesprochene Sumpfluft.
    Dass sie Crystal zieht, hat sie keinem erzählt, und keiner merkt es. Legen Sie Wert auf Ihre Zähne? Dann nehmen Sie kein Crystal Meth. Sie macht es trotzdem. Wenn sie Geld hat, gibt es auch Kokain. MDMA ist wirklich ihr kleinstes Problem. Was einmal die Liebesdroge der Hippies war, ist ihre Wohlfühldroge in fremder Gesellschaft. Sie lebt von Hartz IV und dem, was sie

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