Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Hünniger
Vom Netzwerk:
Abkühlung baden gegangen. Mama bekam Depressionen. Papa wurde Dipl.-Ing. Uroma ist jetzt tot, aber wir haben einen Wellensittich bekommen. Der ist das Schönste, er ist gelb, aber er kann nicht sprechen. Er piept. Wir nennen ihn Pieps. Papa ist im Westen, bei Ingolstadt. Papa kommt als reicher Cowboy zurück. Das ist ungefähr alles.«
     
    Cannes verlassen wir nach einem Heulkrampf meines Bruders, weil der nach einer Stunde Parkhaus einen klaustrophobischen Anfall bekommen hat. »Platzangst kenne ich gar nicht«, sagt mein Vater. »Ich stand mal auf dem Roten Platz in Moskau. Das war beklemmend. Weil es so weit war.« Wir stehen auf dem Sandstrand in Cassis wie in einer Schneelandschaft. Nachdem wir uns mehrmals verfahren haben, weil wir im Kreisverkehr zwei- oder dreimal den falschen Ausgang genommen haben, ist es zu spät, Quartier zu beziehen. Das ist ein Problem. Meine Eltern denken im Meer darüber nach. Es ist kalt geworden. Die Strandtasche ist schwer, wir haben uns vorsorglich Gurken, ein großes Brot, zwei Packungen Leibniz-Butterkekse, zartes Heringsfilet mit cremiger Tomatensoße in der Dose mitgenommen. Mama öffnet die Dose |210| mit Ananas. Es gibt was zu feiern: Wir leben noch. Wir sitzen am Meer. Wir erwarten Delphine. Ein Hündchen kommt gelaufen. Süß. »Nicht anfassen, der hat Tollwut.« Cassis, Steilküste. Der Hafen glänzt. Das Salz poliert die Straßen und Cafés.
    Als wir zum Auto zurückgehen, um eine Pension zu suchen, ist das Fenster auf der Beifahrerseite eingeschlagen. Um diesen Parkplatz zu finden, sind wir mehrfach im Karree gefahren, strategische Parkplatzsuche, um freie Stellplätze einzukreisen, einzukesseln, zu umzingeln. Und dann haben wir diesen hier in einer engen Seitenstraße gefunden.
    Auf dem Gehweg und im Auto sind tausend kleine Glassplitter verteilt. Vier Teenager fahren mit Mopeds an uns vorbei. Dem letzten hängt unser Fotoapparat um den Hals. 20 Minuten später gehen meine Mutter und ich über die schmale Straße zur Polizeistation, mindestens zehn Schritte, Klingeln, ein Rauschen in der Gegensprechanlage, Stille. Sie liegt nahezu gegenüber dem Tatort, hat aber leider am Freitag nur bis 18 Uhr geöffnet, weshalb vor dem Ladenfenster auch eine große weiße Jalousie heruntergelassen ist. Es wird dunkel. Die Lichter der Laternen sind orange, die ganze Welt ist in ein dämmeriges Orange getaucht, die Sandsteinwände, der Asphalt, die Glassplitter. Papa hat einen Sonnenbrand. Die Nächte in Frankreich, wird man sich später vielleicht erinnern, sind nicht schwarz, sie sind orange. Papa schaut auf die Karte, unsere Ferienwohnung können wir heute nicht mehr beziehen. Wohin dann? »Wir fahren nach Marseille«, sagt mein Vater, »wir brauchen jetzt Sicherheit. Wir brauchen ein Parkhaus.«
    »Lass uns lieber in Marseille als Erstes ein Hotel finden und das Auto einfach an eine Häuserwand stellen. In ein |211| Parkhaus muss ich heute nicht unbedingt noch einmal. Als Erstes brauch ich ein Bett.«
    Es ist 23 Uhr, als wir von der Autobahn ab- und auf einer breiten Straße nach Marseille hineinfahren. Kaum ein entgegenkommendes Auto, die Häuser grau und wie gerade vom Meer freigegeben. Ein kleiner Junge sitzt auf einem Bordstein, wir fahren an ihm vorbei und unsere Augen haften an ihm, als hätten wir einen Wolf gesehen. Nacht, Kind, nach 23 Uhr allein auf der Straße, kleiner Junge mit Skateboard. Marseille sagt: »Herzlich willkommen in der Hölle.« Das Schöne an Marseille ist genau das. Marseille gibt nicht vor zu sein, was es nicht ist. Wir wissen sofort, mit wem wir es zu tun haben. Draußen die Nacht, im Auto bleibt es still, Papa drückt den Knopf an der Tür runter, wir fahren mit etwa 10 km/h in das Hafenviertel und versehentlich auf die Straßenbahnschienen. Hinter uns hupt auch schon die Bahn, schnell über den Bordstein rüber, das Auto setzt auf, ein unangenehmes kratzendes, schabendes, reißendes Geräusch. Egal. Wir suchen das nächste Hotel, klingeln. Ein Mann öffnet. Er ist müde, er gähnt, aber in Hotels muss man nicht sprechen. Ist ja klar, was wir wollen. Die Wände sind mit rotem, dickem Teppich tapeziert und dazu etwas schief, die Gänge werden hinten enger. Glaube ich. Fünf ängstliche Augenpaare führt er in ein Zimmer. Als er das Licht anknipst, erschrickt auf den weißen Fliesen eine Kakerlake und erstarrt. Der Mann zieht seinen Pantoffel vom rechten Fuß und klatscht sie tot, zieht den Pantoffel wieder an und kickt die tote Kakerlake hinaus,

Weitere Kostenlose Bücher