Das Paradies
zwischen unseren nach innen gestellten, weichen Knien hindurch. Gerade als wir richtig ankommen in Frankreich, plant mein Vater die Rückfahrt. Er sitzt auf dem Bett und sagt: »Ist wie Russland.« Dann kippt |212| er nach hinten und schläft ein, am nächsten Tag essen wir Eis. Wir sind glücklich.
Wenn mein Vater von Russland erzählt, beginnt er die Geschichte mit dem Satz: »Eigentlich wollte ich Tischler werden.« Sein Vater war LPG-Vorsitzender, sein Onkel in der Kreisleitung der SED, Chef in der Abteilung Landwirtschaft, sein Cousin Sekretär des Vorsitzenden des Rates des Kreises – das war so etwas wie ein Landrat, später arbeitete er in der Versorgungsabteilung und seit sechs Jahren nun bei Coca-Cola. Meine Großväter saßen gewissermaßen in den Managementetagen des Großkonzerns SED. Mein Vater sagt es ungern, aber er gehörte zur Elite, und als Elite hatte man nicht Tischler zu werden, da hatte man zu studieren. Ich denke, heute ist das nicht anders. Das ist immer so. Als ich eingeschult wurde, kam die komplette ehemalige SED-Kreisleitung zum Kaffeetrinken und aß Schwarzwälder Kirschtorte, und meine Mutter kaufte extra eine Kaffeemaschine. Die wurde dann nur für die Kreisleitung oder die Familie herausgeholt. Sonst kochten wir Tee mit einem goldenen Samowar aus Russland.
Dort stand mein Vater in den Siebzigern bereit, Elite zu werden, und hatte Heimweh: Fünf Jahre studierte er in Moskau und Gorki, einer Stadt, die es in Russland mindestens zweimal gibt und in Weißrussland fünfmal, und in einem der weißrussischen Gorkis saß er mit einem Kubaner auf dem Zimmer und wartete, dass alles vorbeiging. Aus der Zeit gibt es eine interessante Geschichte. Eine Geschichte, durch die ich verstanden habe, dass es Menschen gibt, die überhaupt kein Bedürfnis haben, ins Ausland zu reisen: In einer Nacht wurden mein Vater und der Kubaner zu einem russischen Familienfest eingeladen. Das Essen war fett, der |213| Wodka wurde aus großen Gläsern getrunken. Ein Glas leerte mein Vater zur Hälfte, dann wankte er von der Gesellschaft weg, die inzwischen im Garten tanzte und sang. Er lief über die Landstraße, über ihm ein riesiges schwarzes Fenster von Himmel und Sternen, und er sagte sich: »Heute Nacht bleibt das Laken kalt. Ich fahr nach Hause.« Vor einem Haus sah er einen alten Wagen stehen. Um den lief er dreimal herum, öffnete dann die Fahrertür und setzte sich hinter das Steuer. Da kamen drei Russen aus dem Haus gerannt, zerrten ihn aus dem Wagen, einer knallte ihm die Faust ins Gesicht. Mein Vater rief: »Nemezki.« Und sofort ließen sie ihn los, halfen ihm hoch, klopften ihm den Staub von der Schulter und entschuldigten sich. Das finde ich erstaunlich, dass Deutsche nur 30 Jahre, nachdem Hitler Millionen von Menschen weggemetzelt hat, wieder höflich behandelt werden. Im Osten ist der Aussöhnung der Befehl der Verbrüderung vorausgegangen. Während die Aussöhnung mit Frankreich eine westdeutsche Angelegenheit gewesen ist. Da wird man nicht ganz so höflich behandelt.
Über Polen, Tschechien, die Ukraine, Russland ist durch Hitler eine Zerstörung gekommen, die Millionen Leichen hinterließ. Von sechs Millionen vergasten Juden sind in Deutschland eine halbe Million in den KZ umgekommen. In Polen und Tschechien, der Ukraine sind es viele Millionen. Unter Deutschland sollten diese Länder darüber hinaus eine Art Kolonie werden. Das war der Background der Gründung der DDR. Das war die Schuld. Die Ausgangslage der DDR war ein Gefühl. Ziel war nicht Vernichtung. Ziel sollte sein, den Menschen zum Besseren zu erziehen. Ich finde das, in meiner komplett utopiefreien Welt, einen interessanten Gedanken. Sie war einerseits die staatliche Antwort auf den |214| Zweiten Weltkrieg, andererseits wird der wichtige Beitrag zur Aussöhnung mit dem Osten ignoriert. Im Grunde war es die DDR, die die Deutschen an ihre Grenzen im Osten gewöhnt hat. Für mich waren sie zwar niemals ein Thema, vermutlich waren sie mir vor drei Jahren nicht einmal bewusst, viel eher kannte ich die Trauer mancher Westdeutscher um Elsass-Lothringen. Es ist so immerhin gelungen, dass die Oder-Neiße-Grenze für junge Deutsche keine »vorübergehende« ist. Die Grenze ist normal geworden. Nach dem Holocaust ist eine Diskussion darüber, Grenzen zu revidieren oder Land zurückzufordern, unmöglich. Selbstverständlich ist nach dem Dritten Reich gar nichts mehr. Eine neue Ordnung musste beginnen, und wenn die DDR eines gebracht hat, dann
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