Das Paradies
angewurzelt blieb er in der Tür stehen und starrte auf das große Himmelbett, an dem eine blaue Perlenkette hing, um den bösen Blick abzuwehren. Seine Schwester warf sich ihm schluchzend in die Arme und rief: »Sie ist tot! Unsere Schwester ist tot!« Vorsichtig löste er sich von Nefissa und näherte sich langsam dem Bett, wo seine Mutter mit einem Neugeborenen im Arm saß. Tränen standen in ihren dunklen Augen.
»Was ist geschehen?« fragte er tonlos und wünschte sich einen klaren Kopf.
»Gott hat deine Frau von ihren Qualen befreit«, antwortete Khadija und zog die weiche Decke vom Gesicht des Babys. »Aber ER hat dir dieses hübsche Kind geschenkt. Ibrahim, mein geliebter Sohn …«
»Wie lange …?« fragte er und konnte vor Kopfschmerzen keinen Gedanken fassen.
»Sie ist vor wenigen Augenblicken gestorben«, sagte Khadija. »Ich habe im Palast angerufen, aber man konnte dich nicht erreichen.«
Er zwang sich, auf das Bett zu blicken. Die Augen seiner jungen Frau waren geschlossen. Ihr blasses Elfenbeingesicht wirkte so friedlich, als schlafe sie. Das Satinlaken reichte bis zum Kinn und verhüllte alles, was auf den Kampf um Leben und Tod, den sie verloren hatte, hindeuten konnte. Ibrahim sank auf die Knie und vergrub das Gesicht im Satin. Dann sagte er leise: »Im Namen Gottes, des Allmächtigen und Gnädigen. Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist SEIN Prophet.«
Khadija legte ihrem Sohn die Hand auf den Kopf. »Es war Gottes Wille. Sie ist jetzt im Paradies«, sagte sie auf arabisch, der Sprache, die man im Raschid-Haus sprach.
»Wie soll ich das ertragen, Mutter?« flüsterte er. »Sie hat mich verlassen, und ich wußte es nicht einmal.« Tränen liefen ihm über die Wangen. »Ich hätte hier sein sollen. Vielleicht hätte ich sie retten können.«
»Das kann nur Gott, und ER sei gepriesen. Und das soll dir ein Trost sein, mein Sohn: Deine Frau war eine Gläubige, und im Koran steht, daß die wahrhaft Frommen, wenn sie sterben, der Gnade teilhaftig werden, das Antlitz Gottes zu schauen. Komm, sieh dir deine Tochter an. Ihr Geburtsstern ist Vega, im achten Haus. Das ist ein guter Stern, wie die Astrologin mir versichert hat.«
»Eine
Tochter
?« flüsterte Ibrahim. »Hat mich Gott doppelt bestraft?«
»Gott hat dich nicht bestraft«, sagte Khadija und fuhr ihm mit der Hand über die schweißnassen Haare. »Gott, der Allmächtige, hat deine Frau erschaffen. ER hat das Recht, sie zu sich zu rufen, wenn ER das will. Gott ist weise, mein Sohn. Du mußt Gott preisen.«
Er senkte den Kopf und sagte mit erstickter Stimme: »Es gibt keinen Gott außer Gott.« Kaum hörbar fügte er hinzu:
»Aminti billah.«
Ich vertraue auf Gott.
Er stand auf, sah sich verwirrt um und, ohne noch einen Blick auf das Bett zu werfen, lief er aus dem Zimmer.
Wenige Minuten später raste er in seinem Mercedes am Nil entlang, fuhr über die Brücke und ließ Kairo hinter sich. Er sah nicht die endlosen Felder mit dem Zuckerrohr, bemerkte nicht den heißen Wüstenwind, der den Sand gegen den Wagen peitschte, sondern fuhr blindlings weiter und überließ sich seinem Zorn und seiner Trauer.
Wie lange er gefahren war, wußte er nicht, aber plötzlich verlor er die Kontrolle über den Wagen, der sich um sich selbst drehte und in einem Zuckerrohrfeld landete.
Mühsam stieg er aus dem Wagen. Alles drehte sich in seinem Kopf. Er ging ein paar Schritte, ohne etwas von seiner Umgebung wahrzunehmen, richtete sich auf und starrte zum Himmel. Schluchzend hob Ibrahim die Faust und verfluchte mit lauter Stimme Gott.
2 . Kapitel
Die dreizehnjährige Sarah beobachtete neugierig, wie man ihre Schwester für die Überprüfung ihrer Jungfräulichkeit vorbereitete. »Es ist der wichtigste Augenblick im Leben eines Mädchens«, hatte ihre Mutter gesagt.
Er war so wichtig, daß dazu eine große Feier stattfand – die Männer saßen bereits im Hof, tranken Kaffee und lachten, während ein fettes Lamm am Spieß gebraten wurde. Sarah, ihre Mutter und die anderen Frauen trugen ihre besten Gewänder; ein paar der Gäste hatten sogar Schuhe an, und Sarahs Schwester bestrich man Hände und Füße mit Henna. Das ganze Dorf hatte sich zu diesem großen Ereignis versammelt. Sogar der geachtete alte Scheich Hamid war gekommen und ehrte mit seinem Erscheinen die bescheidene Lehmhütte von Sarahs Vater. Fröhlichkeit und auch Spannung lagen in der Luft, als die Frauen Nazirah, die Braut, in die Schlafkammer führten, während die Männer
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