Das Paradies
keine Gefahr, daß Ibrahim
sie
verstoßen würde. Sie wußte, daß sie ihm einen Sohn schenken würde.
Trotzdem fand sie die allgemeine Besessenheit, was Söhne betraf, etwas eigenartig. Natürlich wünschten sich alle Männer Söhne. Auch ihr Vater, der Earl, war enttäuscht darüber gewesen, daß sein erstes Kind ein Mädchen war. Aber für die Ägypter war dieses Thema das Wichtigste in ihrem Leben. Alice hatte sogar festgestellt, daß es auf arabisch kein Wort für »Kinder« gab. Wenn man einen Mann fragte, wie viele Kinder er habe, dann benutzte er das Wort Awalad, das bedeutete Söhne. Töchter zählten nicht. Der bedauernswerte Mann, der nur Töchter zeugte, erhielt das demütigende Attribut
abu banat
, Vater von Töchtern.
Alice erinnerte sich daran, wie in Monte Carlo Ibrahims Interesse an ihr deutlich wuchs, als sie ihm von ihrer Familie erzählte und ihren Bruder, ihre Onkel und männlichen Verwandten erwähnte und lachend hinzufügte, die Besonderheit der Westfalls sei es offenbar, viele Söhne in die Welt zu setzen. Natürlich wußte sie, daß Ibrahim sie nicht nur deshalb liebte. Er hätte nicht mit ihr geschlafen, sie geheiratet und zu seiner Familie gebracht, nur weil sie die Fähigkeit besaß, ihm einen oder mehrere Söhne zu gebären. Ibrahim beteuerte ihr immer wieder seine Liebe. Er betete sie an, war verzückt von ihrer Schönheit und segnete den Baum, aus dem ihre Wiege geschnitzt worden war. Er streichelte ihre Füße und küßte ihr die Zehen.
Wenn nur ihr Vater mehr Verständnis aufbringen könnte. Wenn es ihr doch nur gelingen würde, ihm klarzumachen, daß Ibrahim sie wirklich liebte und daß er ein guter Ehemann war. Sie verabscheute das Schimpfwort »Araber« und hätte sich gewünscht, ihr Vater hätte das nicht gesagt. Die Flitterwochen in England endeten nach zwei Wochen mit einer Katastrophe. Der Earl hatte sich geweigert, ihren Mann auch nur kennenzulernen. Er hatte sogar gedroht, er werde sie enterben, weil sie Ibrahim geheiratet hatte. Sie würde ihren Titel verlieren, hatte er erklärt. Sie war Lady Alice Westfall, weil ihr Vater ein Earl war. Aber Alice hatte ihm erwidert, das sei ihr gleichgültig, denn sie habe einen Pascha geheiratet und trage deshalb ebenfalls den Titel einer Lady.
Die Drohung ihres Vaters ängstigte sie nicht allzusehr. Außerdem wußte sie, er würde einlenken, wenn das Kind geboren war. Der Earl würde bestimmt sein erstes Enkelkind sehen wollen!
Aber er fehlt mir, dachte sie. Es gab Augenblicke, in denen Alice Heimweh hatte. Besonders in den ersten Tagen bei den Raschids hatte sie festgestellt, daß sie sich in einer völlig anderen Welt befand. Die erste Mahlzeit, das Frühstück am Morgen nach ihrer Ankunft, hatte sie verblüfft. Sie kannte nur stille Mahlzeiten in Gesellschaft ihres Vaters und ihres Bruders. Bei den Raschids war das Frühstück eine laute, lärmende Angelegenheit. Die Frauen waren unter sich, saßen auf dem Fußboden und luden sich die Teller mit allen möglichen Gerichten voll. Es wurde geredet und so viel gegessen, als sei es die letzte Mahlzeit auf Erden. Alles wurde kommentiert, die Gewürze und die verschiedenen Geschmacksrichtungen waren ein großes Thema. Sie sprachen über die verschiedenen Öle, und ständig hieß es: »Versuch dies, versuch das!« Und das Essen war für Alice eine einzige Katastrophe! Zum Frühstück gab es gekochte Bohnen, Eier, warmes Fladenbrot, Käse, eingelegte Limonen und Paprika. Und als Alice sich etwas nehmen wollte, hatte ihr Nefissa diskret gesagt: »Wir essen mit der
rechten
Hand.« Alice erwiderte: »Ich bin Linkshänder«, und Nefissa hatte mitfühlend gelächelt, aber gesagt: »Mit der linken Hand zu essen, ist eine Beleidigung, denn wir benutzen diese Hand, um …«, und sie flüsterte es Alice ins Ohr, die bei dem Gedanken jetzt noch rot wurde.
Sie mußte soviel lernen, es gab so viele Anstandsregeln, bei deren Nichtbeachtung man Anstoß erregte. Aber die Raschids waren liebenswürdig und geduldig. Es schien ihnen sogar Spaß zu machen, ihr etwas beizubringen. Sie lachten viel, und wie Alice feststellte, erzählten die Frauen oft komische Geschichten. Mit Nefissa hatte sie sich angefreundet. Schon am ersten Tag nach ihrer Ankunft stellte Nefissa ihre neue Schwägerin Prinzessin Faiza und ihren vornehmen Hofdamen vor – es waren alles Ägypterinnen, aber in ihrer Kleidung und ihrem Benehmen waren sie sehr europäisch. Damals bekam Alice aber auch ihren ersten Schock. Als sie sich zum
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