Das Paradies
Ihr blieb oft noch nicht einmal genug, um eine Zwiebel für das Abendessen zu kaufen. Sarah war keine gute Bettlerin. Einmal wollten die Bettler sie beinahe fortjagen. Aber dann hatte ihr eine schöne Frau aus einem großen rosenfarbenen Haus eine Wolldecke geschenkt, viele gute Sachen zum Essen und sogar Geld. Von da an war Najiba mit ihr zufrieden und meinte, da das Baby bald kommen werde, würde sie noch mehr Almosen bekommen. Sarah durfte bleiben. Die schöne Frau gab ihr regelmäßig etwas. Und eines Abends sah sie dann zu ihrem größten Erstaunen, wie der Fremde, von dem sie den seidenen Schal hatte, in das Haus gefahren war. Seit dieser Zeit fühlte sich Sarah von Gott geleitet und hatte wieder Hoffnung, auch Abdu in der großen Stadt zu finden.
Bei der nächsten Wehe gaben die Beine unter ihr nach. Sie kauerte sich in eine Toreinfahrt und beobachtete, wie Autos und Busse auf dem großen Verkehrskreisel vor der britischen Kaserne in alle Richtungen fuhren. Sarah wollte hinunter zum Nil. Sie durfte nicht länger warten!
Bei Einbruch der Dunkelheit gingen die Straßenlaternen an. Sarah wich den Autos aus und eilte im Schatten hoher Gebäude mit großen Schaufenstern eine Straße entlang, bis sie schließlich eine Brücke erreichte, die über den Fluß führte. Es war die Ausfallstraße zu den Pyramiden. Auf dieser Straße, die irgendwann auch durch Al Tafla verlief, war Sarah in die Stadt gekommen. Aber sie würde nie wieder in das Dorf zurückkehren. Sarah schleppte sich schwer atmend zum Ufer hinunter. Sie blieb öfter stehen, weil die Schmerzen immer heftiger wurden und kaum noch zu ertragen waren. Als ihre Füße in feuchter Erde versanken, kroch sie auf allen vieren hinunter zum Wasser. Schließlich blieb sie keuchend inmitten von Schilf, Abfällen und verwesenden Fischen liegen. Zu ihrer Linken sah sie an kleinen Landestegen verankerte Feluken. Hier lebten die armen Fischer und kochten bei ihren Booten über offenen Feuern eine kärgliche Mahlzeit. Zu ihrer Rechten ankerten hinter dem Museum die großen Hausboote der Reichen und wiegten sich auf den sanften Wellen. An den Decks brannten viele Lampen, und man hörte Musik und Lachen durch die offenen Luken. Auf der anderen Flußseite befand sich die große Insel mit Sportclubs, Nightclubs und herrschaftlichen Villen. Auch dort brannten bereits hell und festlich die Lichter.
Sarah hatte keine Angst, als sie ans Wasser kroch. Gott würde sie beschützen, und bald durfte sie Abdus Kind in den Armen halten, so wie sie vor vielen Monaten Abdu hatte umarmen dürfen. Wenn sie nach der Geburt wieder bei Kräften war, wollte sie die Suche nach Abdu fortsetzen, denn sie hatte nie die Hoffnung aufgegeben, ihren Geliebten wiederzufinden.
Jetzt hielt sie sich an die alte Sitte der Fellachen. Eine Frau ging bei einer Geburt hinunter zum Fluß und aß etwas Uferschlamm, denn der Nil besaß starke Kräfte, um die Gesundheit und das Wohlergehen zu bewahren. Er schützte auch das ungeborene Kind vor dem bösen Blick. Sarahs Schmerzen wurden noch heftiger, und die Wehen folgten immer dichter aufeinander. Zu spät erkannte sie, daß keine Zeit mehr blieb. Das Baby bahnte sich bereits seinen Weg in die Welt.
Sie lag auf dem Rücken, blickte zum Himmel hinauf und staunte, daß es bereits Nacht geworden war. So viele Sterne leuchteten dort oben. Abdu hatte ihr einmal gesagt, es seien die Augen der Engel Gottes. Sie versuchte, nicht laut aufzuschreien und sich damit zu entehren. Sie dachte an Hagar in der Wildnis, die für ihr Kind Wasser in der Wüste gesucht hatte. Ich werde ihn Ismail nennen, dachte Sarah, wenn es ein Junge ist.
Sie blickte auf die Lichter am anderen Ufer, die golden leuchteten und hell glänzten. Sarah sah dort weiß gekleidete Frauen wie Engel, und als die Sterne über ihr plötzlich zu kreisen begannen und die Schmerzen sie übermannten, blickte sie auf diese Lichter und dachte: So muß das Paradies sein.
Das ist das Paradies, dachte Lady Alice, als sie im Club Cage d’Or auf die Terrasse trat. Kairo war strahlend erleuchtet, und die Sterne funkelten und spiegelten sich wie blitzende Diamanten auf den tanzenden Wellen des Nils – o ja, das war das Paradies! Sie war so glücklich, daß sie am liebsten unten am schimmernden Flußufer getanzt hätte. Ihr neues Leben übertraf bei weitem ihre Träume und alle Erwartungen. Sie hatte gehört, Kairo sei das Paris am Nil, aber sie hätte es nie für möglich gehalten, wie französisch alles aussah.
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