Das peinlichste Jahr meines Lebens
Eltern
Gegen halb sieben an diesem Donnerstag kamen meine Eltern vom Kunstkurs zurück. Mum lächelte breit. Dad kam hinter ihr ins Haus geschlurft.
»Ach, war das nicht einfach
befreiend
?«, sagte sie. »All die Jahre haben wir auf diesen Tag hingearbeitet, und endlich treten wir an die Öffentlichkeit. Ich hab das Gefühl, als hätte man mich aus dem Gefängnis entlassen.«
»Du solltest ins Gefängnis gesteckt werden«, murmelte ich. Dad und ich mussten grinsen. Er war eindeutig auf meiner Seite. Da war ich mir sicher.
»Was hab ich da gehört?«, fauchte sie. Sie starrte mich einen Augenblick lang an und holte tief Luft. Dann trat ein Lächeln in ihr Gesicht. »Du kannst diesem Abend nicht seinen Glanz nehmen, Michael, also versuch es erst gar nicht. Ich kann das nächste Mal kaum erwarten.«
»Das nächste Mal?«, fragten Dad und ich gleichzeitig. Dad wirkte noch entsetzter, als ich mich fühlte.
»Natürlich«, erwiderte Mum todernst. »Das war bloß ein Probelauf. Wir waren ja noch nicht im Freien. Außer im Garten natürlich, aber das zählt nicht. Je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, wie dumm die Welt ist.«
»Dumm?«, fragte ich. Vor mir stand eine Frau, die sich zwei Stunden lang nackt von Dave King hatte zeichnen lassen.
»Ja«, sagte sie, »dumm. Warum darf ich nicht nackt sein, wo ich will? Warum musste ich mich neun Jahre lang verstecken? Ich sag dir, warum. Weil
das Gesetz es verlangt
. Ich habe beschlossen, mich dagegen zu wehren.«
»Aber ich dachte, damit wäre die Sache erledigt«, warf Dad ein. »Jetzt haben wir’s ausprobiert. Da müssen wir doch nicht weitermachen.«
»Aber natürlich müssen wir das«, entgegnete sie. »Wir haben nicht mal angefangen. Und ich werde nicht eher ruhen, bis wir voller Stolz wir selbst sein können, ohne dass uns irgendwelche Kleingeister für … für … für verrückt halten.« [39]
»Bitte tut das nicht noch mal. Ich flehe euch an«, sagte ich.
»Wir tun, was wir wollen«, erwiderte Mum schnaubend. »Aber darüber reden wir später. Ich muss sagen, Miss Skinner ist eine nette Frau. Und die Künstler waren wirklich phantastisch, besonders Mr. und Mrs. King. Ein wunderbares Paar. Wir hatten danach ein tolles Gespräch mit ihnen.«
»Hoffentlich hattet ihr da wieder eure Morgenmäntel an«, sagte ich.
Mum räusperte sich. »Nein, Michael. Sie hatten uns schon zwei Stunden lang im Naturzustand gesehen. Offenbar sind sie nicht so prüde, dass sie so etwas stören würde. Sie sind eindeutig Leute nach meinem Geschmack. Aber du musst jetzt deine Schwimmsachen zusammenpacken. Es ist Zeit fürs Training.«
Training
Das Training an jenem Abend war schrecklich. Und zwar aus folgenden Gründen:
Lucy wurde von meinem Bruder gebracht und kam deshalb zu spät.
Wegen Punkt 1 hatte Dave schlechte Laune. Vor dem gesamten Team statuierte er ein Exempel an ihr und sagte, das Gilde-Schwimmfest sei kein Kinderspiel, und sie müsse sich reinknien und hart arbeiten, denn die französischen Mädchen könnten schwimmen wie wütende Tintenfische. Lucy hatte den Kopf gesenkt und murmelte immer wieder: »Ja, Dad.«
Wegen der unter Punkt 2 erwähnten schlechten Laune ließ uns Dave dreißig Bahnen Schmetterlingssprint schwimmen. Falls Sie sich damit nicht auskennen, Schmetterling ist ein unglaublich schwieriger und ermüdender Schwimmstil, der im Mittelalter als Foltermethode erfunden wurde. Nach ungefähr fünf Minuten musste ich mich zum Beckenrand schleppen und sechsmal tief an meinem Inhaliergerät saugen. Während ich nach Luft ringend auf den kalten, harten Fliesen lag, trat mir Dave King »versehentlich« auf die Finger.
Nach dem Training musste ich eine Ewigkeit rumsitzen, während Mum in der Eingangshalle des Schwimmbads mit Dave ein ewig langes Gespräch führte. Ich hörte, wie sie einen wirklich furchtbaren Witz machte, der ungefähr so ging: »Aaach, ich könnte wetten, dass Sie mich bekleidet gar nicht wiedererkennen.« Das war das erste Mal, dass ich Dave je lachen hörte. Sie erzählte ihm eine Menge Unsinn über Ste, sagte, dass er ein netter Junge sei und sie mit ihm reden und dafür sorgen werde, dass er Lucy nicht mehr vom Training abhielt, und fragte, ob es nicht schön wäre, wenn sie sich alle irgendwann mal treffen würden. Dann wurde das Gespräch merklich ernster. Die beiden begannen so leise zu reden, dass ich nicht mehr alles hörte, was sie sagten. Anschließend tauschten sie ihre Handynummern aus. Er sagte, er werde
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