Das Perlenmaedchen
Außenstehende das Muster erkennen.«
Tonina fiel auf, dass die Frau mit Akzent sprach. »Du bist nicht von hier?«, fragte sie auf gut Glück.
»Ich war blutjung, als ich Ozelot heiratete. Geboren bin ich weit weg im Norden, an der Küste von Quatemalán. Ich habe Inselblut in mir«, sagte sie stolz. »Du dagegen wohl eher nicht, trotz der Inselsymbole, die du dir aufmalst.«
»Ich komme von der Perleninsel«, sagte Tonina nur. »Hast du schon mal davon gehört?«
»Dem Namen nach. In meiner Kindheit kamen viele Inselhändler in unser Dorf. Ich erinnere mich an Perlen und Austernmuscheln.«
Tonina hakte nach. »Weißt du, wie weit die Perleninsel von der Bucht entfernt ist, in der der Fluss sich ins Meer ergießt?«
Die Frau rümpfte die Nase und rieb daran, wie um Erinnerungen aus der Kindheit wachzukitzeln. Sie kannte die Stelle, wo der Fluss ins Meer mündete, war aber seit Jahren nicht mehr dort gewesen. »Viele Tage im Kanu, geradewegs nach Nordosten. Aber durchaus zu schaffen. Nur die stürmische Jahreszeit muss man meiden, aber das dürftest du ja wissen.«
Die stürmische Jahreszeit setzte, wie Tonina beklommen überlegte, bereits in vier Monaten ein. »Und wie sieht die Küste aus?«, fragte sie. »Gibt es dort Buchten oder sichere Häfen?«
»Hä? Die Küste? Von Quatemalán, meinst du? Du brauchst keine Häfen, alles ist flach und sumpfig, von einem Ende zum anderen, zwischendrin immer wieder Lagunen.«
Tonina runzelte die Stirn. Großvater hatte von schroffen Klippen und gefährlichen Felsküsten gesprochen. Gab es etwa noch eine Küste? Hatte sie etwas falsch verstanden?
»Ich bin auf der Suche nach einer seltenen Blume.« Sie beschrieb sie unter Zuhilfenahme ihrer Hände, aber die Frau schüttelte abermals den Kopf. »Weder habe ich eine solche Blume je gesehen noch davon gehört. Nicht in dieser Gegend.«
Tonina dachte an die himmelhohen Berge im Osten und an die Küste von Quatemalán im Norden. Monate – Jahre – konnten vergehen, um endlich die Blume zu finden, überlegte sie niedergeschlagen.
Sie dankte der Häuptlingsfrau und begab sich auf die Suche nach Chac. Sie entdeckte ihn im Gespräch mit H’meen.
Wie jeden Tag besprach er sich mit der königlichen Botanikerin, zu deren Aufgaben auch gehörte, den zeitlichen Überblick zu bewahren, zum einen nach dem Kalender der Maya – demzufolge ein Monat zwanzig Tage umfasste –, zum anderen nach dem Inselkalender, der sich nach dem Mond richtete. Darüber hinaus gab es in nördlicheren Gegenden und auf den Inseln im Nordosten, also außerhalb des Einflussbereichs der Maya, weitere Kalender, die H’meen allesamt in ihre Berechnungen mit einbezog. Erst gestern Abend hatte sie Chac abermals versichern können, dass es bis zum Stichtag – wenn er nicht mehr umkehren und Teotihuacán rechtzeitig erreichen konnte – noch eine Weile hin war.
Da hockte er also vor der Fünfzehnjährigen und tätschelte nebenbei Pokis Köpfchen. H’meen gegenüber zeigte sich Chac stets liebevoll und geduldig, so als wäre sie wirklich eine alte Frau. Zehn Tage nach dem Aufbruch aus Tikal war Poki plötzlich verschwunden, und obwohl Chac unter Zeitdruck stand, hatte er eine Pause ausgerufen und sich mit seinen Männern auf die Suche nach dem Hündchen gemacht. Über das allgemeine Murren, wie viel Zeit da wegen eines Tiers vergeudet wurde, das man besser längst hätte essen sollen, war er hinweggegangen.
Jetzt beobachtete Tonina, wie er H’meen höflich dankte und sich dann erhob. Unvermittelt sah er zu ihr hinüber. Als sich ihre Blicke über das rauchdurchzogene Lager hinweg begegneten, machte Toninas Herz einen Satz. Gegen ihren Willen und obwohl sie sich einredete, dass sie niemals zusammenkommen konnten, weil ein unüberwindliches Hindernis zwischen ihnen stand, gelang es ihr nicht, ihr immer stärker werdendes Verlangen nach ihm zu unterdrücken.
Das Hindernis hieß Paluma.
Chacs Pilgerreise nach Teotihuacán diente ausschließlich dazu, für die Seele seiner Frau zu beten. Tonina schloss daraus, dass seine Liebe zu Paluma keinen Raum für irgendeinen anderen ließ.
Und er war aufgrund der Weisung der Götter für sie verantwortlich. Sicher dachte er ständig an das Gesetz, das sie aneinanderkettete, auch wenn sie daneben seinen aufrichtigen Wunsch erkannte, ihr bei der Suche nach der Blume beizustehen.
Sie hatte heimlich beobachtet, wie er Nacht für Nacht für Paluma betete. Die Statue des Kukulcán und die Haarlocke halfen ihm offenbar
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