Das Perseus-Protokoll - Hensel, K: Perseus-Protokoll
Tresen der Rezeption. Andere saßen auf den Sofas der Lobby und starrten die Displays ihrer Smartphones an. Krankenwagen fuhren an der Glasfront des Hotels vorbei, Sirenen kamen näher und entfernten sich. Eine Frau mit verweintem Gesicht stand an einer Säule und wählte immer wieder eine Nummer. Maria hatte es unbemerkt bis zu den Fahrstühlen geschafft. Niemand hatte »Mörderin!« geschrien oder »Verhaftet sie!«
Sie fuhr in den achten Stock. Sie steckte ihre Schlüsselkarte in den Türschlitz. Das Lämpchen blinkte grün. Sie stieß ihre Tür auf, hängte die Kette ein. Das Zimmer war gereinigt. Ein neuer Bademantel in Papiermanschette lag auf dem Bett.
Breaking News auf CNN und BBC. Die Mitrópolis mit zerschossenen Fenstern. Soldaten hatten die Fenster der Kathedrale eingeschossen, das Gebäude mit Gasmasken gestürmt. Für die VIPS in den ersten Reihen war die Rettung zu spät gekommen. Fünf Tote. Der Ministerpräsident und mehrere Minister im Krankenhaus, einige in serious , andere in critical condition ; critical war ernster als serious; critical bedeutete, sie würden nicht überleben. Oder nur mit bleibenden Schäden, zum Beispiel am Gehirn. Reporter belagerten die Krankenhäuser, Spezialisten aus dem Ausland waren auf dem Weg nach Athen. Immer noch wurden leichter Verletzte auf dem Platz vor der Mitrópolis ambulant versorgt. Neue Breaking News: Justizminister erliegt inneren Verletzungen.
»Bei dem Gift«, erklärte eine Expertin auf BBC , »handelt es sich um eine Substanz, die die elektrischen Impulse der Nervenenden an die Muskeln blockiert. Es kommt zu Lähmungen, Kontraktion des Zwerchfells, das Opfer erstickt.«
»Was können die Ärzte in so einer Situation tun?«
»Sie versuchen, durch Intubation die Atemwege freizuhalten. Da dieses unbekannte Gift aber auch die Lungenbläschen …«
Auf TV5 erste Spekulationen über die Täter. Griechische Anarchisten. Panhellenische Faschisten. Arabische Islamisten. Anonyme Bekenneranrufe kamen aus allen Richtungen. Zu früh, die echten von den Trittbrettfahrern zu trennen. Am Abend sollte es eine Pressekonferenz geben. Aber wer würde überhaupt in der Lage sein zu reden? Bloß ein Kabinettsmitglied von Rang war nicht in der Kathedrale gewesen: Dimítros Doukákis, der Minister für Bürgerschutz. Angeblich war er bereits auf dem Rückweg nach Athen. Nach anderen Quellen hielt er sich noch in der Ägäis auf, aus Sicherheitsgründen. Drohungen, sein Ministerium sei das nächste Anschlagsziel, nahm die Polizei ernst. Und immer wieder die Frage nach der Warnung in letzter Minute. Eine junge Frau, mit blonden Haaren. Hatte angeblich die entscheidende Information geliefert. Von der Auswertung der Überwachungskameras erhoffte man sich weitere …
Maria schaltete den Fernseher aus. Sie wollte weinen und konnte nicht. Sie wollte schreien und konnte nicht. Sie hatte entsetzlichen Durst. Die Kühlbar war voller Getränke. In der Kühlbar lag ein abgeschnittenes Ohr. Weil sie die Fotos nicht von der Speicherkarte gelöscht hatte! Welchen Grund hatte er noch, sie leben zu lassen? Was konnte Maria noch tun, um sie zu retten?
Sie riss die Tür der Kühlbox auf, griff, ohne hinzusehen, eine Flasche, warf die Tür wieder zu. Zitronenlimonade. Hätte schlimmer kommen können. Ein Flaschenöffner lag auf dem Tisch. Sie öffnete die Flasche. Sie trank. Und trank. Und …
Es klopfte an der Tür.
Sie verschluckte sich.
Es klopfte stärker.
Sie waren draußen. Um sie zu verhaften. Oder er stand draußen. Um sie zu töten. Ihr Herz hämmerte. Sie konnte hier sitzen bleiben. Aufs Eintreten der Tür warten. Aber sie hatte die Kette vorgehängt. Sie konnte zur Tür gehen. Sie einen Spalt öffnen …
Das Zimmermädchen stand draußen. Deutete auf ihre Uhr. Kurz nach eins. Natürlich, Maria musste ihr Zimmer räumen. Sie nickte, zeigte mit den Fingern. Fünf Minuten.
Sie stopfte ihre Kleidungsstücke in den Rucksack. »Baa-baa-bi-baa-boo.« Sie räumte Bürste, Zahnbürste, Zahncreme in den Kulturbeutel. »Baa-baa-bi-baa-boo.« Nicht denken, packen. Nicht an die Kathedrale, nicht an das Ohr im Kühlschrank. Draußen lief ein Mörder herum. »Baa-baa-bi-baa …«
Die Tür flog auf. Männer in schusssicheren Westen stürmten herein, sprangen aufs Bett, richteten ihre Waffen auf Maria:
»Hände hoch! Hände hoch!«
40
Der Offizier trank einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. Auf dem Tisch lief ein Aufnahmegerät.
»Warum versuchen Sie es nicht mit der
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