Das Pestkind: Roman (German Edition)
tatsächlich die Berge zu erkennen, was ihre Stimmung deutlich hob. Auch Elise war guter Laune. Marianne war aufgefallen, wie sie Justus eindeutige Blicke zuwarf, die er erwiderte. Die beiden schienen anscheinend einen Narren aneinander gefressen zu haben.
Caspar war immer noch mürrisch, doch auch seine Laune schien sich ein wenig gebessert zu haben. Er fluchte nicht mehr bei jeder Gelegenheit und wartete geduldig und ohne Murren, wenn die beiden Frauen eine Pause brauchten.
Auf den Straßen war viel los. Das Ende des Krieges hatte sich herumgesprochen, und die zahllosen Flüchtlinge, die sich in den Bergtälern oder auf der anderen Seite des Inns verkrochen hatten, waren auf dem Heimweg.
Mitleidig beobachtete Marianne die blassen und ausgemergelten Frauen, die ihr ganzes Hab und Gut auf dem Rücken trugen, ein Kind auf dem Arm und drei an der Hand. Oftmals hatten sie nur dünne, löchrige Kleider am Leib, und so manches Kind war barfuß. Männer auf Krücken oder in Karren sitzend zogen vorüber, in ihren Gesichtern Hoffnungslosigkeit.
Doch es kamen auch fröhliche Menschen des Weges. Eine Gruppe junger Burschen zog singend an ihnen vorbei. Die Männer zogen höflich ihre Hüte und grüßten Marianne und Elise freundlich, riefen ihnen aber auch einige Anzüglichkeiten hinterher. Bauern mit stattlichen Fuhrwerken, auf denen Getreidesäcke und Rüben lagen, fuhren vorüber, eine große Schafherde kreuzte ihren Weg, und zwei Hunde liefen bellend um die beiden Frauen herum.
Marianne genoss den Trubel, er lenkte sie ab von den trüben Gedanken der Nacht und den Sorgen um Anderl.
Um die Mittagszeit erreichten sie eine größere Ansiedlung, die anscheinend von einer Heimsuchung verschont geblieben war. Die Kirchturmglocke läutete einladend. Weitläufige Streuobstwiesen umgaben die großen Bauernhöfe, vor denen hier und da Pferde, Ziegen und Kühe auf den Weiden grasten.
»Endlich mal ein Dorf, das nicht zerstört worden ist«, sagte Elise, als sie den winzigen Marktplatz betraten, in dessen Mitte neben einer großen Linde ein Brunnen plätscherte.
Marianne nickte.
»Ja, hübsch ist es hier. Nur etwas still, dafür, dass der Krieg vorbei ist.«
Misstrauisch blickten sich auch Justus und Caspar um.
»Du hast recht, Mädchen«, bestätigte Caspar Mariannes Worte. »Hier stimmt etwas ganz und gar nicht.«
Er holte seine Trinkflasche aus seinem Beutel und wollte sie ins Wasser des Brunnens halten. Doch eine piepsige Stimme hielt ihn zurück.
»Das würde ich an Eurer Stelle lieber nicht tun, mein Herr.« Verwundert sahen sich die vier um, und Caspar zog sofort seine Flasche zurück.
»Wer sagt das?« Suchend blickte er sich um.
»Ich«, antwortete die Stimme. Wie ein Äffchen kletterte ein kleiner Junge, nicht älter als acht Jahre, aus der Linde. Er trug zerschlissene Hosen und ein graues Hemd und war barfuß. Sein Gesicht war von Sommersprossen übersät, und er grinste die vier spitzbübisch an.
»Wer bist du?«, fragte Caspar verdutzt. Der Junge musterte ihn von oben bis unten, schlug ein Rad, blieb direkt vor Marianne stehen und nickte ihr lächelnd zu.
»Spielt das eine Rolle?«
Justus wurde ungeduldig. Er hatte Durst, seine Trinkflasche war leer, und das Wasser sah sauber und köstlich aus.
»Was ist denn jetzt mit dem Wasser?«
Die Miene des Jungen verfinsterte sich, und er deutete auf den Brunnen.
»Das Wasser ist vergiftet, es macht krank.«
Caspar trat einige Schritte zurück.
»Vergiftet?«, fragte Marianne, die den rothaarigen Burschen niedlich fand.
»Seht Euch doch um. Es ist so still. Niemand getraut sich auf die Straße. Warum wird das so sein?«
Verdutzt blickten die vier um sich, und Marianne beschlich ein seltsames Gefühl.
»Jetzt rede schon, Junge«, brüllte Caspar den Knaben an. »Was ist hier los?«
Der Junge schlug ein weiteres Rad. Er schien Gefallen daran zu finden, sie zu necken.
»Wisst Ihr denn nicht die Stille zu deuten?«
Marianne dämmerte langsam, was hier los war. Nur eines konnte die Menschen in ihren Häusern halten.
Der Junge lief ganz nah an ihr vorbei und schaute ihr ins Gesicht.
»Du hast es erkannt. Ich kann es in deinen Augen sehen. Nicht wahr?«
Marianne nickte. Doch bevor sie antworten konnte, mischte sich ein älterer Mann ein, der unbemerkt näher getreten war.
»Ihr solltet das Dorf lieber schnell verlassen, denn der Schwarze Tod wütet schon seit Wochen bei uns.«
Er zeigte auf den Brunnen.
»Die schwarzen Katzen des Teufels haben das Wasser
Weitere Kostenlose Bücher