Das Pesttuch
festzuhalten. Früher habe ich immer gedacht, das sei so, weil in ihnen noch immer die Erinnerung an den Himmel l ebt. Wenn sie von hier scheiden, fürchten sie de s halb den Tod nicht so sehr wie wir, die nicht mehr mit Gewissheit sagen können, wohin unser Geist geht. Dies muss Gottes Güte sein, dachte ich, die Er ihnen und uns erweist, da Er so vielen Kindern nur ganz wenig Zeit lässt, bei uns zu verweilen.
Das Fieber stieg ganz plötzlich, noch vor Mittag, während ich im Pfarrhaus arbeitete. Jane Martin schickte auf der Stelle nach mir, wofür ich dankbar war. Sie nahm Jamie mit zu ihrer Mutter, damit ich mich voll und ganz Tom widmen konnte. Eine Weile schrie er, wenn er zu saugen versuchte und keine Kraft dafür aufbringen konnte. Dann lag er nur noch in meinen Armen, starrte mich aus weit aufgeriss e nen Augen an und wimmerte ab und zu. Bald schweifte sein starrer Blick ins Leere, bis er schlie ß lich keuchend die Augen schloss. Ich saß neben dem Herd und hielt ihn voller Erstaunen. Wie konnte mir entgangen sein, dass sich sein kleiner Körper g e streckt hatte, sodass er, der einmal in meine Ar m beuge gepasst hatte, jetzt über meine Arme hinau s ragte. »Bald wirst du bei deinem Vater sein«, flüste r te ich. »Er wird dich noch immer so halten können. In seinen starken Armen wirst du geborgen sein.« Lib Hancock kam mit frischem Schichtkäse, den ich nicht essen konnte, und sagte mir tröstliche Worte, die in meinem Kopf zu Unsinn gerannen. Nachmi t tags kam meine Stiefmutter, um sie abzulösen. An ihre Worte erinnere ich mich noch, so tief haben sie sich in mir eingebrannt.
»Anna, du bist eine Närrin.«
Erstaunt blickte ich auf. Zum ersten Mal riss ich an jenem Tag mühsam meine Augen von Toms G e sichtchen los. Hinter meinen Tränen tauchten ihre teigigen Gesichtszüge auf. Verzweiflung spiegelte sich in ihrer Miene, das sah ich.
»Warum gestattest du dir eine solche Liebe zu e i nem Wickelkind? Ich habe dich gewarnt. Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dein Herz gegen so etwas wappnen?« Es stimmte. Aphra hatte s chon drei eig e ne Kinder noch vor dem ersten L e bensjahr unter der Erde gesehen, eines wegen Fieber, das andere wegen Ruhr und der dritte, ein gesunder Junge, hatte einfach in seinem Bettchen zu atmen aufgehört, ohne irgen d ein äußeres Anzeichen. Ich hatte ihr bei all diesen Todesfällen beigestanden und mich über ihre trock e nen Augen gewundert.
»Es ist Narretei und bringt Unglück, ein Kind zu lieben, bevor es läuft und gut gewachsen ist. Siehst’s ja jetzt selbst, siehst’s ja jetzt selbst …«
Als sie sah, wie mir die Augen überliefen, verlor ihre Stimme den herrischen Ton. Sie streckte eine Hand aus und wollte mich auf die Schulter tätscheln, aber ich schüttelte sie mit einem Schulterzucken ab. »Gott hat dein Herz verhärtet, Stiefmutter«, sagte ich. »Dafür kannst du dich bei Ihm bedanken. Mir hat Er diesen Gefallen nicht erwiesen, denn ich habe Tom von jenem Augenblick an geliebt, als ich zum ersten Mal seinen Scheitel berührte, auch wenn er noch ganz nass und blutig war …«
Nun weinte ich lauthals und konnte nicht mehr weitersprechen. Aphra gab mir einen Hexenstein und murmelte einige seltsame Worte darüber. »Den musst du über ihn hängen, damit nicht böse Geister seine Seele an sich reißen.« Ich nahm den Hexe n stein entgegen und hielt ihn in der Hand, bis sie die Kate verließ. Dann warf ich ihn in hohem Bogen ins Feuer.
Als ich kurz darauf Schritte im Vorhof hörte, stöhnte ich auf, denn tief drinnen wusste ich, dass meine Zeit mit Tom in Windeseile verrann, eine Zeit, die ich mit niemandem sonst teilen wollte. Aber das sachte Klopfen und der leise Gruß verrieten mir, dass es Elinor Mompellion war. Ich bat sie einzutreten. Nach wenigen leisen Schritten kniete sie schon n e ben uns und nahm uns in ihre Arme. Sie schalt mich nicht wegen meines Kummers, sondern teilte ihn mit mir und linderte so mein Weinen und meine Wut. Später zog sie einen Stuhl ans Fenster u nd las mir Unseres Herren Worte über die Liebe zu kleinen Kindern vor, bis es zu dämmrig wurde. Ich lauschte ihr wie ein Wickelkind einem Wiege n lied, ohne auf die Worte zu merken, und wurde doch von ihrem Klang getröstet. Wahrscheinlich wäre sie die ganze Nacht geblieben, wenn ich ihr nicht gesagt hätte, ich würde Tom mit in mein Bett hinaufne h men.
Beim Treppensteigen und während ich ihn auf u n ser Lager legte, sang ich ihm leise vor. Er blieb mit matt ausgebreiteten
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