Das Pesttuch
daran. Sei versichert, du hast das Richtige getan. Du hättest weglaufen und dich selbst in Sicherheit bringen kö n nen, und doch hat dich dein mitfühlendes Herz zum Gegenteil verleitet.« Jetzt seufzte er. »Diese Pest wird aus uns allen Helden machen, ob wir wollen oder nicht. Und du bist der Erste davon.«
Charity hatte auch für Maggie einen Becher Hammelsuppe gebracht. Zu zweit versuchten wir, sie aufzustützen und ihr etwas davon durch die heile Mundhälfte einzuflößen. Leider vergeblich. Offe n sichtlich konnte sie nicht mehr aus eigener Kraft die Zunge heben, um die Flüssigkeit in die Kehle gleiten zu lassen. Stattdessen tropfte alles heraus und ihr übers Kinn. Ich versuchte, ein Stück Haferkuchen in der Suppe einzuweichen, aber auch das ging nicht besser. Die arme Frau konnte nicht kauen. In ihrem guten Auge bildete sich eine dicke Träne und vere i nigte sich mit den Speichelspuren auf ihrem Kinn. Arme Maggie! Essen war der Inhalt ihres Lebens gewesen. Was würde aus ihr, wenn sie nicht mehr essen konnte?
»Gott verfluche diese Bradfords!« Unversehens rutschten mir diese Worte heraus, noch ehe mir b e wusst war, dass ich sie ausgestoßen hatte. Hochwü r den Mompellion schaute mich an, allerdings nicht mit dem erwarteten Tadel.
»Sei unbesorgt, Anna«, sagte er. »Das hat er, glaube ich, längst getan.«
Die Pflege von Maggie Cantwell war für den a r men Jakob Merrill eindeutig eine zu große Last. Ha t te er doch schon alle Mühe, in dieser winzigen Ei n zimmerkate ein zehnjähriges Mädchen und einen Buben großzuziehen, der noch nicht mal sechs war. Trotzdem meinte er, er würde Brand ein Dach über dem Kopf geben, bis der Junge etwas Besseres fi n den könne. Mister Mompellion meinte, er würde Maggie ins Pfarrhaus bringen, aber ich dachte mir, Mistress Mompellion habe schon genug schwere Aufgaben übernommen. Wenn man ihr nun auch noch die Pflege einer Schwerkranken aufbürdete, würde sie darunter zusammenbrechen. Ich sagte also, ich würde Maggie in meine Kate nehmen. Zuvor müsste ich mir allerdings erst ein besseres Beförd e rungsmittel für den Transport beschaffen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie sich in ihrem gegenwä r tigen Zustand zu fein war, an einem Platz zu liegen, wo die Pest zugeschlagen hatte. Wir vereinbarten, sie bis morgen früh bei den Merrills zu lassen, damit sie eine ganze Nacht lang warm und ruhig liegen konnte.
Während Mister Mompellion Anteros bestieg, um ins Pfarrhaus zurückzureiten, machte ich mich zu Fuß in die entgegengesetzte Richtung auf, zur Haue r taverne. Ich wollte sehen, ob ich dort den Pferdew a gen für den Transport am nächsten Tag bekommen konnte. Auf dem Rückweg war es so kalt, dass mir der Atem in Wölkchen vor dem Gesicht stand. Damit mir warm wurde, lief ich schneller.
Die Hauertaverne liegt in einem uralten Gebäude, vielleicht neben der Kirche das älteste unseres Do r fes. Aber während die Kirche ein stolzer, rechteck i ger Bau ist, ist die Taverne ein seltsam gewölbtes Bauwerk, das sich ganz tief unter seinem Strohdach duckt. Es ist das einzige größere Gebäude hier, das nicht aus Steinen, sondern aus hölzernem Fachwerk besteht, dessen Holzbalken rundherum mit Mörtel verputzt sind, der durch Pferdehaare verstärkt wurde. Im Laufe der Jahre haben die Balken nachgegeben und sich so durchgebogen, dass die Vorderfront des Gebäudes inzwischen wie der Rundbauch von Mä n nern vorsteht, die drinnen zu viel Bier trinken. Wie die Kirche ist auch die Tave r ne ein wichtiger Ort, wo man sich trifft. Sie ist nicht nur ein Hafen des Ve r gnügens für alle, die den Krug lieben, sondern b e herbergt auch die Versammlungen der Knappschaft und das Berggericht, wo alle wichtigen Entscheidu n gen über die Förderung und den Verkauf unseres E r zes getroffen werden.
Die Taverne hat einen großen Gerichtssaal und e i nen Schankraum , der zwar geräumig ist, aber eine so niedrige Decke hat, dass sich die meisten Hauer beim Betreten bücken müssen. Verständlich, dass ich mich an einem derart bitterkalten Tag beeilte, in den Schankraum zu kommen. Drinnen brannte ein mäc h tiges Feuer und sorgte für Wärme. Für einen Wer k tagsvormittag hatte sich eine ordentliche Menge ve r sammelt, darunter auch mein Vater. Offensichtlich hatte er dem Krug schon eine Weile zugesprochen.
»Hierher, Tochter, du siehst ja kälter aus als ‘ne Hexentitte! Ich geb dir ‘n Bier aus, damit du wieder Farbe in die Backen kriegst. Bier ist doch das wärm
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