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Das Pesttuch

Das Pesttuch

Titel: Das Pesttuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: brooks
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den griesgrämigen Bewegungen e i ner Alten eine heiße Gewürzmilch.
    Und doch war mein Sinn so heiter wie noch nie seit jenem warmen Tag – ach! Wie lange schien das schon her zu sein –, an dem ich mit den Zehen im Bach gesessen war und Tom gestillt hatte, einen l a chenden Jamie neben mir. Der Lichtwinkel verriet mir, dass ich zehn Stunden geschlafen hatte, der erste ungestörte Schlaf, an den ich mich seit langem eri n nern konnte. Ich suchte das Bord nach dem restlichen Stück Mohnharz ab u nd spürte, wie Panik in mir au f stieg, als ich es nicht sofort finden konnte. Steif, wie ich war, tastete ich auf Händen und Knien verzwe i felt zwischen den Steinplatten herum, um festzuste l len, wohin es gefa l len sein könnte. Als meine Hand es zu fassen bekam, fühlte ich mich so erleichtert wie nach einem Freispruch. Vorsichtig legte ich es wi e der ins Fläschchen und versteckte es erneut im To n topf. Schon der G e danke, dass es dort war und auf mich wartete, e r wärmte mich innerlich genauso wie die Milch und das Feuer, das jetzt allmählich meine Knochen au f taute.
    Als das Wasser nicht mehr eiskalt war, wusch ich mein Gesicht und zupfte die Nester aus meinem Haar. Gegen das zerknitterte Aussehen meines Ki t tels konnte ich nicht viel tun, aber wenigstens legte ich einen frischen Kragen um. Eine Gesichtshälfte hatte noch immer Dellen vom Abdruck der Steinpla t te. Deshalb rubbelte ich mir fest beide Wangen und hoffte, die kalte Luft würde auf meinem Weg zum Pfarrhaus einen rosigen Schimmer darauf zaubern. Während ich auf die Straße hinaustrat, klammerte ich mich an den letzten Hauch von betäubter Heiterkeit, wie ein Mensch, der in einen Brunnen gefallen ist und sich nun mit aller Kraft an den Fäden eines au s gefransten Seils festhält. Doch ich hatte noch keine sechs Schritte getan, als ich wieder in die dunkle Höhle unserer neuen Wirklichkeit fiel.
    Sally Maston, das gerade mal fünf Jahre alte Nachbarmädchen, stand mit weit aufgerissenen A u gen stumm im Eingang ihrer Kate und hielt sich den blutigen Bauch. Sie hatte ein dünnes Nachthemdchen an, auf dessen Vorderseite sich das Blut aus ihrer aufgeplatzten Pestbeule rosenförmig abzeichnete. Ich lief zu ihr hin und nahm sie in die Arme.
    »Ist ja gut, ist ja gut. Wo ist deine Mama?«
    Ohne eine Antwort sackte sie gegen mich. Ich trug sie in die dämmrige Kate zurück. Das Feuer war über Nacht ausgegangen, der Raum eiskalt. Blass und kalt lag Sallys Mutter schon seit vielen Stunden tot auf einer Pritsche. Wo ihre Hand leblos vom Lager g e fallen war, lag Sallys Vater neben seiner Frau auf dem Boden, Hand in Hand. Er hatte Fieber und rang mühsam nach Atem. Sein Mund war mit Blasen ve r krustet. Aus einer hölzernen Krippe neben dem Herd drang das matte Wimmern eines Babys.
    Konnte es so viel abgrundtiefes Elend an einem einzigen Tag geben? Vor Sonnenuntergang hatte die Heimsuchung sage und schreibe vier Familien g e troffen. Die Mompellions taumelten von einer schmerzlichen Szene zur nächsten. Während der Herr Pfarrer mit den Sterbenden betete, ihren letzten Wi l len niederschrieb und tröstete, wo er konnte, half ich Mistress Mompellion dabei, die Waisen zu versorgen und Verwandte für sie zu finden, die sich ihrer a n nehmen wollten, was nicht einfach war, zumal wenn das Kind bereits krank war. Wie selbstverständlich hatten wir unsere Last auf diese Weise untereinander aufgeteilt: Der Herr Pfarrer kümmerte sich um alles, was mit dem Sterben zu tun hatte, während seine Frau und ich die Dinge der Überlebenden regelten.
    An jenem Tag bestand meine Arbeit darin, die Maston-Kinder zu versorgen. Außerdem richtete ich den Leichnam ihrer Mutter für den Küster her. Für den Vater konnte ich nur wenig tun. Er lag bewuss t los da und atmete kaum. Als der arme, alte John Millstone mit seinem Karren kam und merkte, dass der Mann zwar schon fast tot war, aber eben noch nicht ganz, hörte ich ihn leise vor sich hinfluchen. Ich muss ihm wohl einen strengen Blick zugeworfen h a ben, denn er riss seine schmutzige Kappe vom Kopf und fuhr sich mit der Hand über die Auge n brauen.
    »Ach, Anna Frith, Verzeihung, aber diese Zeiten, die machen aus uns allen Ungeheuer. Liegt doch nur daran, dass ich so hundemüde bin. Kann schon kaum den Gedanken ertragen, d en Karrengaul zweimal a n zuschirren, wenn einmal auch genügt hätte.« Darau f hin bat ich ihn, sich zu setzen, und ging in meine K a te, um einen Becher Suppe zu holen, denn der Alte arbeitete weit

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