Das Pete Buch 12 - Der Goldkoenig von Somerset
Er griff zu und genehmigte sich ein paar lange Schlucke. Oh, Curacao, den trank er für sein Leben gern!
MacMurrys Sinne umnebelten sich, ehe er es merkte. Als er nun den vierten kräftigen Zug nahm, hatte er bereits vergessen, daß die Flasche ja gar nicht sein eigen war. Das Alkoholteufelchen gaukelte ihm vor, ein freundlicher Mitmensch habe ihm diesen köstlichen Tropfen soeben zum Geschenk gemacht. Ziemlich verwirrt sah er
sich dann auch an allen Ecken und Enden um, aber da er diesen „freundlichen Geber" nirgends zu entdecken vermochte, brüllte er zackig „Vielen Dank, Gent!" und ging wieder nach draußen. Daß ihn die frische Luft reichlich torkelig gemacht, bemerkte er eigentlich erst, als er vor der Haustür der Länge nach hinplumpste. Da diese Länge nicht beträchtlich war, hatte er den Boden sehr rasch erreicht, raffte sich aber ebenso schnell wieder auf. MacMurry war von einer seltenen Vitalität und energisch dazu! In dem Augenblick, wo er spürte, daß bei ihm nicht mehr alles stimmte, kämpfte er gegen diese Sache an. Das zeigte sich zunächst einmal darin, daß er stolz aufgereckt, mit stramm vorgedrücktem Brustkasten und tiefen Atemzügen seinen Weitermarsch antrat.
Aus einem der nächsten Häuser wurde er von einer uralten Frau angesprochen, die dort am offenen Fenster saß. Die Greisin mußte sehr, sehr kurzsichtig sein.
„Hallo, Jungchen" wisperte sie freundlich und auch streng zugleich, „die Schule ist doch wohl noch nicht aus?"
,Mich laust der Affe', dachte MacMurry, sah die Alte, verzieh ihr die Gebrechlichkeit, wie sich das gegenüber alten Leuten gehört, schwenkte die Curacao-Flasche und lachte ihr zu: „Prost!" sagte er nur und genehmigte sich noch einen.
Das hätte MacMurry nicht tun sollen. Denn schon die nächsten zwei, drei Schritte wurden ihm wieder verdammt schwer. Im Grunde war die staubige Straße daran schuld; denn sie begann sich vor seinen flimmernden Äuglein zu drehen und zu biegen. Manchmal war sie unsagbar breit, dann wieder eng und schmal wie ein Gedankenstrich. In solchen Momenten kam sich MacMurry wie ein Seiltänzer vor und hatte besondere Mühe, die Balance einigermaßen zu halten.
Wozu er eigentlich in Somerset herumturnte, wußte der kleine Mann schon nicht mehr.
Da, wieder verengte sich diese verruchte Straße, wurde schmaler und schmaler. MacMurry mußte wieder wie eine Primadonna balancieren, um nicht von dem kaum noch sichtbaren Strich abzukippen. In der Not greift ein Mensch nach jedem Strohhalm. MacMurry sah links von sich eine Reihe dicht beieinander stehender Zaunpfähle. Als er hinfaßte, war es allerdings nur einer. Ihm war es schließlich egal. Hauptsache, er hatte einigen Halt.
Wie in weiter Ferne erkannte er das Haus, das zu diesem Gartenzaun gehörte und knappe drei Meter dahinter stand. MacMurry suchte im Augenblick Ruhe, nur Ruhe und eine Sitzgelegenheit oder gar ein Sofa zum Hinlegen. Er war entsetzlich müde.
Das Haus gehörte Mrs. Rattlesnake. Die Dame war erst vor wenigen Minuten heimgekommen. Sie hatte es nicht lange vor ihrem „vergoldeten" Mobilar ausgehalten. Sie mußte ihrem Herzen Luft machen und ihren nächsten Bekannten von dem Glück erzählen, das wie ein Wunder über sie gekommen war.
MacMurry sah wohl den goldglitzernden Kohlenkasten und noch verschiedenes andere, was glitzerte, hielt diese seltsame Erscheinung aber für eine Täuschung. Denn daß bei ihm im Kopf längst nicht mehr alles in der richtigen Ordnung war, das hatte er schon erfaßt und
trug es lächelnd. Aber das Sofa stach ihm ins Auge! Er wußte selbst nicht recht, wie es kam, aber auf einmal lag er darauf, und dann sägte er wie zwei Dutzend Holzfäller los.
MacMurry war von Natur aus kerngesund. Wenn er seine zwei Stündchen Schlaf gehabt hatte, war sein Kopf wieder frei, jedes Format von Rausch verduftet. Nichts störte seine königliche Ruhe.
Mrs. Rattlesnake hatte eine ganze Anzahl näherer Bekannter. Sie weilte über zwei Stunden in den Häusern ihrer Freundinnen und erzählte von ihrem seltsamen Erlebnis. Daß man über ihr Glück nur mitleidig lächelte, merkte sie nicht.
Nachdem sie etwa ein Dutzend vermeintlicher Freundinnen mit ihrer Geschichte „erfreut" hatte, stackelte sie — selber ziemlich ausgelaugt — wieder dem eigenen trauten Heim zu.
Gebannt wie beim ersten Anblick ihrer „vergoldeten" Herrlichkeiten blieb sie auf der Schwelle zur Küche stehen, denn gerade erhob sich MacMurry räkelnd aus dem Schlaf, der ihm gut getan
Weitere Kostenlose Bücher