Das Puppenzimmer - Roman
an der Wand festhalten, doch dann stand ich oben, wartete einen Augenblick, dass der Schwindel wieder vorüberging, und schluckte den sauren Geschmack hinunter, der mir plötzlich in den Mund stieg. Nicht nach unten schauen, nur geradeaus. Bis zu der Stelle, wo die Treppe anfing und es abwärtsging, waren es vielleicht fünf, sechs Meter. Schätzen war nicht meine Stärke, aber darauf kam es auch gerade gar nicht an. Es war jedenfalls nicht zu weit zum Balancieren, und wenn ich mich gut anstellte, konnte ich dort eine kleine Pirouette machen und zurücklaufen. Wenn nicht, war es auch nicht schlimm. Ich konnte jederzeit wieder nach links runterspringen, der Abgrund war schließlich nur auf einer Seite – deswegen war es auch nur halb so gefährlich.
In St. Margaret’s hatte ich das unzählige Male gemacht, und ich musste zugeben, dass ich Heimweh hatte – nicht nach dem Waisenhaus, Gott behüte, das war ein entsetzlicher Ort, aber danach, etwas zu tun, von dem ich wusste, wie es ging und was ich zu tun hatte. Etwas, in dem ich gut war. Alan konnte so stolz sein auf sich. Ich wollte auch endlich wieder einmal stolz auf mich sein. Was ich mit den Puppen machte, das war keine Kunst. Jede andere hätte das auch gekonnt. Aber zur Treppe und zurückbalancieren – das konnte nur ich. Ich atmete tief durch, überprüfte ein letztes Mal, ob meine Füße auch richtig standen, dann ließ ich vorsichtig die Wand los und streckte die Arme zu den Seiten aus. Und in dem Moment konnte ich es ganz deutlich fühlen. Meine Flügel waren wieder da, vielleicht waren sie immer bei mir gewesen, schon mein ganzes Leben lang. Ich hatte keine Angst. Wenn ich fiel, würden sie mich tragen.
Ich wusste nicht, ob es am Wein lag, aber noch nie hatte sich das Balancieren so gut angefühlt. Um mich herum war eine Freiheit; ich fühlte mich, als ob ich auf Luft liefe. Ich schwebte, und jeder Schritt saß. Ich tänzelte, ich flog, ich warf Kusshände in mein Publikum – war mir eben noch schwindelig gewesen? Kaum vorstellbar. Elvira Madigan wäre so stolz auf mich gewesen, ihr Leutnant hätte sie glatt für mich sitzengelassen, so gut war ich, schön, leicht. Es machte eben doch einen Unterschied, ob man in dem strengen dunkelblauen Kleid eines Waisenmädchens auf dem Seil tanzte oder in luftigem Weiß … Den Applaus hatte ich mir verdient. Es war kein wildes, frenetisches Klatschen, sondern langsam, anerkennend –
Und der Moment, in dem ich mich fragte, wer da klatschte, in dem ich den Fehler beging, mich umzublicken, war der, in dem ich das Gleichgewicht verlor und stürzte. Und ich konnte nicht einmal sagen, ob ich nach links fiel, wo der Fußboden keinen Meter entfernt war und ich mir höchstens ein paar blaue Flecken holen würde, oder nach rechts, wo es Meter um Meter in die Tiefe ging. Der Schwindel packte mich, wirbelte mich durch die Luft, dass ich nicht mehr wusste, ob es nach oben ging oder nach unten. Alles drehte sich, ich mittendrin, um mich herum nur Schwärze. Einen Moment lang wunderte ich mich nur – ich fühlte mich wie Alice, als der Kaninchenbau unter ihr verschwand, und fragte mich, wohin meine Flügel plötzlich verschwunden waren. Dann kam die Angst. Dann kam das Nichts und verschlang mich.
Und dann, als hätte ich in einem Buch versehentlich ein paar Seiten zurückgeblättert, stand ich wieder am Fuß der Treppe, unversehrt, ohne eine Schramme oder auch nur die kleinste Prellung; nur übel war mir, dass ich schlucken musste, um meinen Mageninhalt nicht doch noch von mir zu geben. Eigentlich hätte ich mich freuen müssen, dass ich in Sicherheit war. Aber Sicherheit sah anders aus. Sicherheit bestand nicht aus einem Rufus, der vor mir stand und mir den Weg nach oben versperrte.
»Was machst du hier, Mädchen?«, fragte er scharf.
Ich zuckte zusammen, versuchte mechanisch zu knicksen, und musste mich am Treppengeländer festhalten, um nicht hinzufallen. Hatte er mich aufgefangen? Oder hatte ich doch nur im Stehen geträumt? Ich entschied mich für Letzteres und tat besser so, als wäre nichts geschehen. Vielleicht kam ich damit durch. »Ich bin auf dem Weg in mein Zimmer, Sir«, nuschelte ich. Nach dem, was Alan gesagt hatte, wagte ich es nicht mehr, meine Zähne auseinanderzubringen – ich wollte nicht, dass Rufus den Wein roch. Aber der Grund, warum ich mich vor ihm hüten musste, war der, dass man ihn nicht unterschätzen durfte.
»Was ist mit dir?«, fragte er. »Hast du getrunken?«
Mir wäre vermutlich
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