Das Rad der Zeit 9. Das Original: In den Klauen des Winters (German Edition)
Tel’aran’rhiod . Das Bett war zwischen zwei Blicken zerwühlt und ordentlich gemacht. Die Bettdecke verwandelte sich von geblümt zu dunkelrot und wurde dann zu einer Steppdecke. Das Vergängliche verwandelte sich hier immer und er nahm es kaum noch bewusst wahr. Er konnte das Tel’aran’rhiod nicht so benutzen wie die Auserwählten, aber das war der Ort, an dem er sich am freiesten fühlte. Hier konnte er sein, wer auch immer er sein wollte. Der Gedanke ließ ihn kichern.
Er blieb neben dem Bett stehen, zog vorsichtig die beiden vergifteten Dolche und trat aus der unsichtbaren in die wache Welt. Dabei wurde er zu Luc. Es erschien passend.
In der wachen Welt war das Zimmer dunkel, aber das einzige Fenster ließ genug Mondlicht herein, dass Luc die Umrisse der beiden Menschen sehen konnte, die unter ihren Decken schliefen. Ohne zu zögern rammte er in jeden einen Dolch. Sie erwachten mit einem leisen Aufschrei, aber er riss die Klingen heraus und stach immer wieder zu. Das Gift machte es unwahrscheinlich, dass einer von ihnen genug Kraft gehabt hätte, um so laut zu schreien, dass man sie außerhalb des Zimmers gehört hätte, aber er wollte diesen Mord auf eine Weise zu seinem Werk machen, wie es das Gift allein niemals bewirkt hätte. Nachdem er jeweils eine Klinge zwischen Rippen gerammt hatte, hörten sie bald auf zu zucken.
Er wischte die Dolche an der Bettdecke sauber und schob sie mit der gleichen Sorgfalt, mit der er sie gezogen hatte, in die Scheiden zurück. Man hatte ihm viele Fähigkeiten verliehen, aber Immunität gegen Gift oder andere Waffen waren nicht darunter. Dann zog er einen Kerzenstummel aus der Tasche und blies gerade genug Asche von den Holzscheiten im Kamin, dass er den Docht entzünden konnte. Er sah sich immer gern die Leute an, die er tötete, und wenn es nicht bei der Tat ging, dann eben hinterher. Er hatte es vor allem bei den beiden Aes Sedai im Stein von Tear genossen. Der Unglaube auf ihren Gesichtern, als er wie aus dem Nichts vor ihnen auftauchte, das Entsetzen, als sie erkannten, dass er nicht gekommen war, um sie zu retten – Erinnerungen, die er in Ehren hielt. Das war Isam gewesen, nicht er, aber die Erinnerungen waren deshalb nicht weniger kostbar. Keiner von ihnen bekam oft die Gelegenheit, eine Aes Sedai zu töten.
Er prägte sich die Gesichter des Mannes und der Frau auf dem Bett einen Augenblick lang ein, dann drückte er die Kerzenflamme aus und steckte die Kerze zurück in die Tasche, bevor er wieder ins Tel’aran’rhiod trat.
Sein gegenwärtiger Patron wartete schon auf ihn. Es war ein Mann, dessen war er sich sicher, aber Luc konnte ihn nicht ansehen. Es war nicht so wie bei den schleimigen Grauen Männern, die man einfach nicht wahrnahm. Er hatte mal einen von ihnen getötet, in der Weißen Burg. Sie hatten sich kalt und leer angefühlt. Es war, als hätte man eine Leiche getötet. Nein, dieser Mann hatte etwas mit der Macht getan, sodass Lucs Blick von ihm abglitt wie Wasser von Glas. Selbst aus den Augenwinkeln betrachtet, war er nur ein Schemen.
»Das Paar in diesem Zimmer wird für alle Zeiten schlafen«, sagte Luc, »aber der Mann war kahlköpfig und die Frau grauhaarig.«
»Schade«, sagte der Mann, und die Stimme schien in Lucs Ohren zu schmelzen. Er würde sie nicht erkennen, wenn er sie ohne die Tarnung hörte. Der Mann musste einer der Auserwählten sein. Von den Auserwählten abgesehen wussten nur wenige, wie er zu erreichen war, und keiner der Männer konnte die Macht lenken oder hätte es gewagt, ihm Befehle zu erteilen. Man bat um seine Dienste. Nur der Große Herr nicht und in letzter Zeit auch die Auserwählten. Aber keiner der Auserwählten, die Luc kannten, hatte jemals solche Vorsichtsmaßnahmen getroffen.
»Soll ich es erneut versuchen?«, fragte Luc.
»Vielleicht. Wenn ich es Euch sage. Vorher nicht. Vergesst nicht, zu keinem ein Wort darüber.«
»Wie Ihr befehlt.« Luc verbeugte sich, aber der Mann schuf bereits ein Wegetor, ein Loch, das sich auf eine verschneite Waldlichtung öffnete. Er war verschwunden, bevor sich Luc wieder aufgerichtet hatte.
Es war wirklich eine Schande. Er hatte sich so darauf gefreut, seinen Neffen und die Schlampe zu töten. Aber wenn er freie Zeit hatte, machte es immer Spaß, auf die Jagd zu gehen. Er wurde zu Isam. Isam tötete Wölfe noch lieber als Luc.
KAPITEL 23
Wo die Sonne verschwand
M it der einen Hand versuchte Shalon, den ungewohnten Umhang festzuhalten, während sie sich gleichzeitig
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