Das Rätsel der dritten Meile
durch die Aussage des Schaffners, daß er dringend nach Oxford wollte. Ich bedaure sehr, daß wir nicht mehr miteinander gesprochen haben, aber vielleicht ist es auch das beste so... Ebenfalls letzten Samstag muß Albert Gilbert das Gefühl gehabt haben, vielleicht doch nach den letzten Tagen etwas Trost und Ruhe zu brauchen, und so kehrt er nach Hause zurück. Doch seine Frau ist nicht da. Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel (die Polizei hat ihn später entdeckt), auf dem sie ihm mitteilt, daß sie es mit ihm nicht mehr aushalte und deshalb gehe. Das muß für Albert der Tropfen gewesen sein, der das Faß zum Überlaufen gebracht hat. Der Tod seines Bruders, die Polizei ihm auf den Fersen und nun auch noch verlassen von dem einzigen Menschen, dem er all die Jahre blindlings hat vertrauen können... Vielleicht ist ihm in diesem Moment bewußt geworden, was er eigentlich an ihr gehabt hat. Offenbar hat er keine Hoffnung mehr, daß sich doch noch alles zum Guten wenden könne. Er öffnet ein Fenster seiner im siebten Stock gelegenen Wohnung und springt... der zweite von den Brüdern Gilbert, der durch Selbstmord endet.»
Über dem Bericht hatte Morse seinen Kaffee ganz vergessen und betrachtete jetzt mit einigem Ekel die dunkelbraune Haut, die sich inzwischen auf der Oberfläche gebildet hatte. «Haben die Pubs eigentlich schon geöffnet?» fragte er.
«Das wissen Sie in der Regel besser als ich, Sir», sagte Lewis.
«Ich denke, bis wir in Thrupp sind, ist der Boat Inn allemal auf. Kommen Sie, Lewis. Wir haben einen Fall gelöst. Da haben wir es uns redlich verdient, nach langer Zeit endlich einmal wieder in Ruhe ein Bier zu trinken.»
«Aber ich weiß noch immer nicht...»
«Sie haben völlig recht, Lewis, das Stück im Herzen des Puzzles fehlt noch...»
Achtunddreißigstes Kapitel
Montag, den 4. August
Die dritte Meile
Normalerweise, dachte Lewis, pflegte Morse, wenn sie einen Fall abgeschlossen und er zudem ein schäumendes Bier vor sich hatte, zufrieden und aufgeräumt zu sein. Doch heute blickte der Chief Inspector, als er Lewis über einen schmalen Tisch in einer Ecke des Boat Inn hinweg zuprostete, beinahe düster.
«Wenn dieser Fall jemals vor Gericht gebracht und man die Frage stellen würde, was eigentlich diese unheilvolle Kette von Ereignissen ausgelöst habe, so müßte die Antwort lauten: Haß. Haß genährt aus frustriertem Ehrgeiz. Und am Lonsdale College, Lewis, gab es gleich zwei Männer, Browne-Smith und Westerby, die von dieser zerstörerischen Leidenschaft beherrscht wurden.
Die Ursache ihres Hasses liegt Jahre zurück und hat mit den Umständen bei der letzten Rektorenwahl am Lonsdale College zu tun. Wie wir wissen, sehen die Bestimmungen vor, daß nur der Kandidat zum Rektor ernannt werden kann, der von den acht möglichen Stimmen mindestens sechs ohne eine Gegenstimme auf sich vereinigt. Mit sechs Ja-Stimmen und zwei Enthaltungen wäre ein Kandidat somit gewählt; mit sechs Ja-Stimmen, einer Enthaltung und einer Nein-Stimme wäre er durchgefallen. Und genau dies passierte zunächst Browne-Smith und im Anschluß auch Westerby. Bei den bekanntermaßen seit Jahren angespannten Beziehungen der beiden, schien die Erklärung für den jeweiligen Mißerfolg auf der Hand zu liegen...
Und nun lassen Sie mich Ihnen eine merkwürdige Geschichte erzählen, Lewis, die zu verstehen geradezu ein Stück Genialität voraussetzt — nicht jetzt im nachhinein natürlich, aber zum damaligen Zeitpunkt. Rufen wir uns die Ereignisse noch einmal ins Gedächtnis zurück. Der erste Mann wurde nach London gelockt, um ihn dort mit einem dunklen Kapitel aus seiner Vergangenheit zu konfrontieren. Aber die Brüder Gilbert hatten sozusagen die falsche Seite des Buches aufgeschlagen. Browne-Smith hatte mit dem Tod ihres Bruders John nicht das geringste zu tun. Vier Tage später köderte man einen weiteren Mann nach London, ebenfalls um ihm eine alte Rechnung aufzumachen. Doch auch hier lag ein Irrtum vor. Westerby hatte nicht gegen Browne-Smith gestimmt, er hatte sich der Stimme enthalten. Genau wie umgekehrt Browne-Smith. Auch er hatte bei Westerbys Wahl keine Nein-Stimme abgegeben, sondern einen leeren Zettel. Ihre jeweilige Gegenstimme war also einem der sechs anderen Mitglieder des Wahlkollegiums zuzuschreiben, und während ihnen das allmählich klar wurde, kam ihnen gleichzeitig der Verdacht, daß ihrer beider Nein-Stimmen womöglich von ein und demselben Mann abgegeben worden sein könnten. Und plötzlich
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