Das Rätsel der Templer - Roman
Kommode.
Als erstes fiel ihr die lederne Geldbörse entgegen. Die Münzen kannte sie bereits. Neben dem kleinen Buch, in das sie gestern
Abend nur flüchtig hatte hineinschauen können, fiel ihr ein gerolltes Blatt Papier ins Auge, das mit einem gedrehten, rotweißen
Seidenbändchen verschnürt war. Vorsichtig löste Hannah die Kordel und breitete das leicht vergilbte Stück sorgsam vor sich
aus. Mit leuchtendem Grün und purpurnem Rot hatte der Schreiber Ranken und Blumen darauf gezeichnet und in die Mitte ein Gedicht
gesetzt.
Elsebeten Minnelied
war in der Überschrift zu lesen
|297| Vür Gêrharde, mîn sunne, mîn mâne, mîn âvendstern
Mîn herze hât vlügel,
sihest du ein vogelîn an deme himmel,
soltu wizzen, ez vlieget zu dir.
Mîne minne ist der hûch eines windes,
spilet sîn âdem mit dînen locken,
soltu wizzen, sie ist bî dir,
Mîne sensuht ist ein regen,
vallen die droppen hernider ûf dîn antlitze,
solltu wizzen, ez sind die zehere mîner sensuht nâ dir.
In êwiger minne, Elsebete
Hannah klopfte das Herz bis zum Hals. Dank ihrer drei Semester Mittelhochdeutsch konnte sie alles entziffern. Es war ein Liebesgedicht,
unterzeichnet von einer Elisabeth.
Es gab also eine Frau, die für den angeschlagenen Tempelritter etwas mehr empfand als allgemein üblich.
Plötzlich hörte sie Schritte im Flur. Hastig verstaute sie die Sachen in der Tasche und schob sie von sich weg. Zuerst huschte
die Katze ins Zimmer und sprang auf das Bett. Respektlos wollte sie sich auf dem Mantel niederlassen, nahm dann aber davon
Abstand, weil ihre Neugierde siegte und sie von dem blutigen Fleck auf dem wattierten Pullover angezogen wurde. Der Junge,
der dem Tier gefolgt war, blieb regungslos im Türrahmen stehen und starrte auf das mittlerweile getrocknete Blut. Hannah sah,
dass er mit den Tränen kämpfte. Rasch lief sie zu ihm hin und drückte ihn an sich.
»Es wird alles gut«, sagte sie. Unaufhörlich strich sie ihm über den Rücken, während er, den Kopf an ihrer Brust versteckt,
leise vor sich hin schluchzte.
Nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte, führte sie ihn zum Bett, räumte die Kleidung zur Seite und gab ihm zu verstehen,
dass er sich setzen sollte. Als sie neben ihm Platz nahm, legte sie in einer mütterlichen Geste den Arm um seine Schultern.
Er wagte es nicht, ihr ins |298| Gesicht zu sehen, während er sich regelrecht in ihre Armbeuge schmiegte.
»Sag, Matthäus«, begann sie zögernd, »Ist der Ritter Gerard … ist er dein Vater?«
Überrascht blickte der Junge auf, dann schüttelte er heftig den Kopf. »Nêina«, sagte er abwehrend, fast so als habe sie eine
Beleidigung ausgesprochen. »Er ist mein Herr.«
Gut, das war also geklärt. »Wo ist euer Zuhause?«
Der Junge zögerte. »Es ist mir nicht erlaubt, darüber zu sprechen«, sagte er leise. »Ich kenne Euch nicht gut. Vielleicht
seid Ihr uns feindlich gesinnt.«
»Würdest du einem Feind erlauben, dass er den Arm um dich legt?«, fragte Hannah mit treuem Blick.
Nun rückte er kaum merklich von ihr ab und schaute verlegen zu Boden.
»Du kannst mir vertrauen. Oder denkst du immer noch, dass ich böse bin?«
»Ihr habt es zugelassen, dass Männer in seltsamen Gewändern meinen Herrn verschleppt haben, und ich weiß noch nicht einmal
wohin. Vielleicht ist er schon tot und …« Wieder traten Tränen in seine Augen.
»Hey, Matthäus«, tröstete Hannah den Jungen, »dein Herr ist nicht tot. Er war verletzt. Wir mussten ihn in ein Hospital bringen.
Wenn du willst, gehen wir ihn heute besuchen.«
Die blauen Augen voller Hoffnung schaute er zu ihr auf.
Unvermittelt meldetet sich ihr Mobiltelefon, das im Flur auf einer Kommode lag. Der Junge fuhr zusammen, als ob man ihn geschlagen
hätte.
»Kein Grund zur Panik«, beruhigte Hannah ihn rasch, während sie seinen Arm drückte. Ein schmerzliches Zucken zeigte sich in
seinen Augenwinkeln. »Bin sofort wieder da, nicht bewegen«, sagte sie.
»Sankt Agnes Krankenhaus in Wittlich, ich verbinde«, schnarrte eine weibliche Stimme in ihr Ohr. »Hallo, spreche ich mit Frau
Schreyber?«
»Ja?«
»Mein Name ist Weidner, ich bin die verantwortliche Oberärztin auf der Unfallstation. Frau Schreyber, ich wollte Sie bitten,
umgehend |299| vorbeizuschauen, wir hatten heute früh ein paar Probleme mit Ihrem Mann.«
»Probleme?« Es dauerte einen Augenblick, bis Hannah realisierte, um was es überhaupt ging.
»Nichts, worüber sie sich
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