Das Rätsel Sigma
Herbert hatte merkwürdigerweise den Eindruck, daß er es vermied, die Vertreterin des Ministeriums direkt anzusprechen oder auch nur anzusehen. Sonst jedoch war sein Bericht knapp und korrekt und wurde auch zunehmend flüssiger. Herbert bemühte sich, ebenso sachlich und kurz zu berichten. Frau Dr. Baatz hörte aufmerksam zu, den Kopf ein wenig schräg geneigt. Dann dachte sie einen Augenblick nach, bevor sie sagte: „Gut. Ich billige alle getroffenen Maßnahmen. Ich habe von mir aus bereits sowjetische Kollegen aus Akademgorodok eingeladen. Sie haben dort ein neues Universalgerät entwickelt, das die elektrischen Aktivitäten des Körpers komplex erfaßt. Die Nullserie ist gerade heraus, und die Kollegen begrüßen es, daß sie gleichzeitig uns helfen und ihre Geräte an einer neuartigen Aufgabenstellung erproben können. Sie treffen kommende Nacht hier ein und bringen die gesamte Nullserie mit, insgesamt zehn Geräte. Für den Verdacht auf einen neuartigen Virus scheinen mir ausreichende Gründe vorzuliegen. Ich werde nachher sofort Prag anrufen, Professor Novak. Wie ich ihn kenne, wird er uns ebenfalls helfen. Gibt es noch Fragen?“
Herbert wollte etwas sagen, aber jetzt summte es am Arbeitstisch des Chefarztes.
„Ja?“ fragte er.
„Ein Video für Lehmann. Aus dem Kernkraftwerk.“
„Soll später…“, setzte der Chefarzt an, aber Frau Dr. Baatz sagte: „Nein, nicht abweisen, vielleicht ist es wichtig!“
„Stellen Sie durch!“ ordnete der Chefarzt an. Er schaltete die Video-Kamera auf Totale. Leifs Gesicht erschien auf dem Schirm. Herbert fragte, was es gäbe.
„Es könnte wichtig sein“, sagte Leif. „Die Biologin aus dem Kraftwerk, die du ins Krankenhaus gebracht hast, hat heute hier den ersten Tag gearbeitet. Der Arbeitsgruppenleiter sollte sie einweisen, hat sie aber einen Augenblick allein gelassen. Moment, ich hab's noch genauer. Das Mädchen kommt aus Dresden, ist am Sonnabend in Neuenwalde eingetroffen, hat ihr Zimmer im Ledigenheim bezogen und heute früh zum erstenmal den Betrieb betreten.“
„Ja, das ist sehr wichtig“, sagte Frau Dr. Baatz. „Und wann genau am Sonnabend? Können Sie das feststellen?“
„Im Augenblick nicht“, antwortete Leif. „Wir wissen nur, daß sie gegen fünfzehn Uhr im Ledigenheim auftauchte. Sie hat dort erklärt, sie wolle das Wochenende nutzen, um sich die Gegend anzusehen. Das ist im Augenblick alles.“
„Wohnt jemand von den anderen Kranken im Ledigenheim?“
„Nein.“
„Dann danke ich Ihnen“, sagte die Ärztin. „Es war sehr gut, daß Sie sofort angerufen haben.“
Die letzte Bemerkung war offenbar an die Adresse von Dr. Knabus gerichtet, aber der ging nicht darauf ein. „Also könnte sie sich frühestens am Sonnabend infiziert haben“, sagte er.
„Ja, das ist wohl klar. Aber Sie wollten vorhin noch etwas sagen?“ Frau Dr. Baatz wandte sich an Herbert.
„Ja, ich wollte Sie um so etwas wie eine private Vorlesung bitten, über Fragen des Schlafs. Ich fühle mich sehr unsicher, wenn ich Nachforschungen anstelle in einer Sache, von der ich nicht einmal die Grundlagen begriffen habe. Herr Dr. Knabus vertröstete mich auf den angekündigten Spezialisten, also auf Sie, wie ich annehme.“
Frau Dr. Baatz nickte langsam. Dann sagte sie: „Wir machen das heute noch, eine Gelegenheit wird sich finden. Hinterlassen Sie bitte im Sekretariat des Krankenhauses, wo Sie zu erreichen sind, ja?“ Herbert verstand. Er erhob sich und verabschiedete sich.
Als Herbert das Zimmer verlassen hatte, herrschte eine ganze Weile Schweigen. Endlich hielt der Chefarzt es nicht mehr aus. „Verstehe mich nicht falsch“, sagte er, „aber mußtest ausgerechnet du kommen?“
Dr. Monika Baatz erhob sich. „Als Ärzte sind wir den Kranken verpflichtet, nicht unseren privaten Gefühlen“, erwiderte sie. „Auf dieser Basis sollten wir doch zusammenarbeiten können.“ Sie lachte auf, ein wenig hart. „Wenn alle geschiedenen Ehepartner jedes künftige Zusammentreffen vermeiden wollten, wäre die Welt zu klein.“
Wer den Mann da auf der Bank vor dem Krankenhaus in der Sonne sitzen sah, mußte annehmen, er warte den Ausgang einer gefährlichen Operation ab, so geistesabwesend und mitleiderregend erschöpft sah er aus. Geistesabwesend und erschöpft war der Inspektor Herbert Lehmann freilich, aber aus einem anderen Grunde: Er haderte mit seinem Geschick. Die Hoffnung, daß diese Aufgabe, die ihm da zugefallen war, sich in einem Tage würde erledigen
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