Das Rätsel Sigma
die Leute kein Telefon, oder es meldete sich niemand, weil die Leute im Einsatz gegen die Sturmschäden waren. Es war also unmöglich, den vermutlichen Unfallort genauer zu fixieren, und man konnte nicht mehr tun, als ohnehin getan wurde: Der Stab hatte Streifen mit schweren Fahrzeugen eingesetzt, die im ganzen Kreis die Straßen absuchten und provisorisch räumten.
Das alles sah Herbert ein, aber er grübelte trotzdem unablässig über andere Möglichkeiten nach, wie er Fred helfen könnte, und war außerordentlich erleichtert, als er benachrichtigt wurde, daß Fred sich gemeldet hatte.
„Genosse Hoffmeister läßt mitteilen, daß er ins Kreiskrankenhaus gerufen wurde und daß Sie das Feld am Eberkopf untersuchen sollen!“ sagte der Sprecher des Katastrophenstabes.
„Am Eberkopf?“ fragte der Vertreter der Kooperative verwundert. „Da fahren wir doch gerade hin!“
Jetzt war Herbert so zufrieden wie seit Tagen nicht mehr. Wenn zwei Spuren unabhängig voneinander zu demselben Punkt führen, dann muß ja dort etwas zu finden sein!
Eine Viertelstunde später tauchten im Scheinwerferlicht die Silhouetten der Großgeräte auf, die wegen des Sturms abgestellt waren und mit ihren nach hinten zusammengeklappten Auslegern wie riesige Insekten aussahen. Sie standen vor dem Feld am Eberkopf, von dem das vergiftete Futter gekommen war. Jetzt hatten die Fachleute das Wort, für Herbert gab es so gut wie gar nichts zu tun, nicht zum erstenmal in diesem vertrackten Fall; aber zum erstenmal machte er sich nichts daraus.
Fred Hoffmeister stand am Bett seiner Frau. Ihm war weich in den Knien, die Glieder waren zentnerschwer, in den Ohren dröhnte der Herzschlag. Er stand und rührte sich nicht.
So elend hatte er seine Frau noch nicht gesehen. So elend hatte er überhaupt noch keinen Menschen gesehen. Das Gesicht war eingefallen, die Haut lag wie zum Zerreißen gespannt auf den Schädelknochen. Die Hände auf der Bettdecke schienen durchsichtig zu sein. Fred bemühte sich abergläubisch, diesen Satz nicht zu denken: Sie sah aus wie eine Tote.
Wie erlöst atmete er auf, als sie im Schlaf ein wenig die Finger bewegte. Jetzt änderte sich auch ihr Gesichtsausdruck – sie schien etwas Schönes zu träumen.
Jemand betrat das Zimmer und flüsterte mit Dr. Monika Baatz, die hinter ihm stand. Er hörte, wie die Ärztin leise und scharf sagte: „Nein – keine Injektionen!“
Fred drehte sich um. „Kommen Sie“, sagte er schwerfällig zu der Ärztin.
„Ja, es wird jetzt ernst“, sagte Monika Baatz, als sie sich in ihrem Arbeitszimmer gegenübersaßen. „Nicht nur mit Ihrer Frau, auch bei den anderen. Die sekundären Vergiftungserscheinungen häufen sich. Und was das schlimmste ist: Bei einigen Patienten nimmt die Amplitude der Hirnströme ab. Zwar wenig, aber doch nachweisbar. In drei, höchstens vier Tagen müssen wir das Problem gelöst haben.“ Fred nickte, sein Gesicht war düster.
„Nun zu Ihrer Frau“, sagte die Ärztin. „Wir brauchen Ihre Hilfe. Wir müssen noch einmal alle Besonderheiten durchgehen, die sich während der Schwangerschaft Ihrer Frau gezeigt haben und auch vorher. Es muß uns einfach gelingen, sie effektiver zu ernähren. Wenn uns das nicht gelingt – Sie haben ja gesehen, wie elend sie aussieht –, dann sind wir in zwei bis drei Tagen soweit, daß wir… einen Eingriff machen müssen…“
„Das Kind nehmen?“ fragte Fred entsetzt.
Dr. Baatz sah niedergeschlagen aus. „Um Ihre Frau zu retten. Wir werden Sie dann um die Genehmigung bitten müssen. Aber vielleicht können wir diesen Punkt noch hinausschieben, bis wir mit der Vergiftung fertig werden. Unser Gynäkologe wird Sie befragen, er erwartet Sie um zweiundzwanzig Uhr, also in einer Stunde. Danach braucht Sie unser Ernährungsphysiologe. Bitte bieten Sie Ihr ganzes Erinnerungsvermögen auf, es hängt viel davon ab, wenn nicht alles. Haben Sie ein gutes Gedächtnis?“
„Im allgemeinen ja“, sagte Fred beklommen.
„Sind Sie müde? Nehmen Sie zur Zeit irgendwelche Medikamente? Haben Sie schon mal krampfartige Erkrankungen gehabt? Irgendwelche Allergien?“
Fred schüttelte zu jeder Frage stumm den Kopf. Die Ärztin zog ein Röhrchen aus der Tasche. „Dann nehmen Sie bitte diese Tablette und nach einer Stunde, vor Beginn der Befragung, noch eine. Sie werden Ihnen helfen, sich zu erinnern!“
DONNERSTAG
Herbert wurde wach, als die Sonne für einen Augenblick zum Fenster hereinschien. Das Zimmer war ihm fremd, das
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