Das Reich der Dunkelelfen - Weltennebel
Vater redete, hatte Aramia das Gefühl, sie würde die beiden durch die Gassen Kyrâstins wandeln sehen, ihre Mutter in edlen seidenen Gewändern, ihr Vater der angesehene Alchemist, und auch wenn sie sich zu Anfang dagegen gewehrt hatte, gefiel ihr diese Vorstellung deutlich besser als jene, welche sie über zweihundert Sommer und Winter mit sich herumgetragen hatte. Letztendlich würde sie niemals Gewissheit erlangen, aber irgendetwas in ihrem Inneren sagte ihr, dass Zir’Avan die Wahrheit sagte.
Wenn Aramia sich dazu durchringen konnte, Atorian allein zu lassen, gingen sie in den folgenden Tagen über den Steg auf den See hinaus. Meist war es Zir’Avan, der über die Vergangenheit sprach, aber irgendwann begann auch Aramia ein wenig von sich zu erzählen, von ihrer Kindheit auf der Nebelinsel, und dass sie auch ohne Eltern nicht unglücklich gewesen war. Freunde wie Lilith und Tagilis und andere Lehrmeister aus gemischten Verbindungen, die schon seit langer Zeit nicht mehr am Leben waren, hatten ihren Weg begleitet und ihr Leben bereichert. Letzten Endes musste sie zugeben, dass es ihr gut ergangen war, und nun verflog hier unten, im Lichtschein der Ewigen Feuer von Kyrâstin, auch die Bitterkeit darüber, lange als Ausgestoßene gelebt zu haben.
Eine blühende Frühlingswiese, Drachen, die über Albanys Wäldern ihre Kreise zogen, und eine lachende junge Frau mit langen Haaren, die im Sommerwind wehten. Atorian streckte seine Hand aus und rief ihren Namen: Lorana!
Nebel zog auf, und Atorian bemühte sich, zu der Frau zu gelangen, doch so schnell er auch rannte, sie entfernte sich immer weiter von ihm. Plötzlich erschien ein anderes Bild vor seinen Augen. Eine anmutige Frau mit schmalem Gesicht, hohen Wangenknochen, faszinierend grünen Augen und seidigen schwarzen Haaren beugte sich über ihn. Sie sah sehr besorgt aus, und jetzt spürte er, wie sie ihm sanft über die Wange strich und ihn bat, aufzuwachen.
»Aramia!« Ruckartig richtete er sich auf, sank dann aber sofort zurück in die weichen Kissen, da sich alles um ihn drehte.
»Atorian – endlich.« Sie reichte ihm einen Becher mit irgendeiner nach Kräutern riechenden Flüssigkeit, und nun ließ er den Blick durch das Zimmer schweifen. Er lag auf bequemen Fellen am Boden, im Kamin neben ihm flackerte bläuliches Licht.
»Wie geht es dir?«, erkundigte sie sich, und als er sie genauer betrachtete, sah er, dass ihre Augen und die Ringe, die darunter lagen, von einigen schlaflosen Nächten zeugten.
»Ich denke, besser«, antwortete er mit heiserer Stimme, wobei sich sein Hals seltsam kratzig anfühlte. »Wo sind wir?«
»Im Haus meines Vaters. Wir hatten dich hergebracht, doch niemand hatte viel Hoffnung, dass du überlebst.« Ein Schatten fiel über ihr Gesicht, und Atorian drückte rasch ihre Hand.
»Dann bin ich dir wohl doch nicht ganz gleichgültig«, stellte er mit einem Lächeln fest.
Ihre Schultern spannten sich an. »Natürlich bist du das nicht. Du bist mein Freund und Darians Bruder.«
»Darians Bruder …«, seufzte Atorian enttäuscht, aber bevor er noch etwas hinzufügen konnte, ging die Tür auf, und Zir’Avan trat herein.
Überrascht bemerkte Atorian, dass Aramia ihm zulächelte, und diesmal sogar zaghafte Zuneigung in ihren Augen stand.
Der Dunkelelf befragte ihn ernst, wie er sich fühlte, untersuchte seine Schulter und gab ihm dann einen bitter schmeckenden Saft.
»Du hast einen starken Willen, junger Mann«, stellte Zir’Avan anerkennend fest, »und ein mutiges Herz. Gegen Kaz’Ahbrac zu siegen war eine großartige Leistung, aber einem so starken Gift zu widerstehen ist noch viel schwieriger.«
»Ohne Eure Tochter hätte ich das nicht geschafft«, erwiderte er und blickte zu Aramia auf, der das sichtlich peinlich war.
»Auch sie ist eine starke Frau.« Zir’Avan legte ihr eine Hand auf die Schulter, und erneut wunderte sich Atorian, dass sie dies geschehen ließ.
»Ihr solltet etwas essen, Atorian, und anschließend schlafen, dann seid Ihr sicher bald wieder auf den Beinen.«
Der hochgewachsene Dunkelelf reichte ihm ein Tablett, nickte ihm kurz zu und verließ dann den Raum.
»Ihr scheint euch besser zu verstehen«, stellte Atorian fest, und aß mit Appetit von einer kräftigen Brühe.
»Er hat sich wirklich sehr um dich bemüht, außerdem hatten wir genügend Zeit, um uns auszusprechen.«
»Trotzdem wundert es mich. Bei unserer Abreise wärst du ihm am liebsten noch an die Kehle gegangen, und jetzt, nur ein paar
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