Das Reich der Elben 01
verstummte. Jede Kreatur im weiten Umkreis schien die Gefahr zu spüren.
Plötzlich stürzte sich das geflügelte Wesen in die Tiefe. Der albtraumhafte Schrei, den es dabei ausstieß, ähnelte dem einer Krähe, nur war er um vieles lauter.
Blitzschnell raste der Schatten herab.
Thamandor hatte bereits seine Einhandarmbrüste gehoben und Ygolas seinen Bogen gespannt.
Aber das Ziel des Ungeheuers war nicht die Elbengruppe, sondern ein Bereich, der im tiefen Schatten eines Hanges lag, sodass auch elbische Augen nicht zu erkennen vermochten, was dort geschah.
Schrille Schreie durchdrangen die Nacht.
Es waren zweifelsfrei die verzweifelten Todessschreie der geflügelten Affen. Die namenlose Angst, die in diesen Schreien zum Ausdruck kam, sorgte dafür, dass selbst einem so hartgesottenen Krieger wie Siranodir mit den zwei Schwertern kalte Schauder über den Rücken rieselten. Als die
Schreie verstummten, war lautes Schmatzen und Schlürfen zu hören, das Reißen von Fleisch, das Brechen von Knochen – und etwas, dass wie ein zufriedenes, nahezu erleichtertes Atmen klang.
»Wollen wir hoffen, dass wir nicht auf dem Speiseplan dieses schaurigen Nachtjägers stehen«, knurrte Siranodir düster.
»Soll er ruhig kommen und versuchen, sich an mir zu vergreifen«, brummte Thamandor der Waffenmeister. »Das Gift meiner Armbrustbolzen wird schon dafür sorgen, dass er mich reumütig wieder ausspeit!«
»Ihr scheint ein geborener Optimist zu sein, werter
Thamandor«, sagte Siranodir.
Auf Thamandors glatter Stirn erschien jene charakteristische
Falte, die anzeigte, dass er mit etwas nicht einverstanden war.
»Ihr sprecht das Wort ›Optimist‹ so aus, als wolltet Ihr eigentlich ›Narr‹ sagen.«
Siranodir mit den zwei Schwertern lachte leise. »Ist beides denn nicht ein und dasselbe, werter Thamandor?«
Der Trupp von Prinz Sandrilas setzte seinen Weg fort. Es wurde eisig kalt, und Nebel bildete sich in dicken Schwaden in der Schlucht. Die Gewänder der Elben wurden klamm und feucht, und selbst sie mit ihren scharfen Augen konnten kaum weiter sehen als ein paar Schritte.
Aber dann tauchte ein rötlicher Schimmer in der Ferne auf, der den Beginn des neuen Tages ankündigte.
Zumindest redeten sich die Elben das ein.
Das diffuse Licht wurde stärker und vertrieb nach und nach den Nebel.
Thamandor der Waffenmeister blieb stehen und blickte zurück. »Eigenartig. Hinter uns bleibt der Nebel bestehen,
doch wenn wir nach vorn blicken, wird er – so scheint’s – von der aufgehenden Sonne vertrieben.«
»Ja, dieses Land ist voller Wunder«, murmelte Sandrilas.
»Es könnte Magie dahinterstecken«, überlegte Thamandor laut.
»Aber auch eine Gesetzmäßigkeit der Natur, die wir noch nicht erfasst haben«, gab Lirandil zu bedenken.
»Im Moment interessieren mich weder die Gesetzmäßigkeiten der Natur noch der Magie sonderlich«, entgegnete der einäugige Elbenprinz.
Mit zunehmender Helligkeiten vermochten die Elben auch zu sehen, was sich an den steilen Hängen zu beiden Seiten der Schlucht befand. Kunstvolle Steinreliefs waren vor Urzeiten in den harten Fels geschlagen worden. Sie ähnelten den Darstellungen, die auch die Küstenfelsen zierten, nur waren sie noch um einiges aufwändiger.
Die gesamte Schlucht schien Teil einer uralten, in den Fels geschlagenen Ruinenstadt zu sein. Manche der Steinreliefs zeigten Kämpfe der Äfflinge gegen bizarre Geschöpfe. Riesige spinnenartige Geschöpfe waren darunter, aber auch Kreaturen, die an mannsgroße Tintenfische erinnerten, von deren Fang sich die Elben zeitweise während ihrer Fahrt durch das Nebelmeer ernährt hatten.
Am Ende der Schlucht enthüllte der schwindende Nebel ein Bergmassiv, das wie ein einziges behauenes Kunstwerk wirkte. Der gesamte obere Bereich hatte die Form eines riesigen
Affenkopfes, dessen geöffnetes Maul ein Tor und dessen
Hauer imposante Steinsäulen waren. Vor dem Tor befand sich ein Plateau. Die aufgehende Sonne bildete eine rötliche Korona um den Berg, der ihn aussehen ließ, als würde er in einem magischen Licht erstrahlen.
Ein Schwarm von etwa zwei Dutzend geflügelten Affen erhob sich von dem Plateau und stieg in die Lüfte. Sie flogen der aufgehenden Sonne entgegen, nach Osten.
»Dort oben, in dieser affenkopfförmigen Zitadelle, werden wir vielleicht Antworten auf unsere Fragen finden«, sagte Sandrilas. »Möglicherweise ist der König dorthin entführt worden!«
»Ich kann Euch nur zustimmen«, meinte Lirandil der Fährtensucher. »Die meisten der
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