Das Reich der Katzen (German Edition)
zurück. »Nur wenige Meter von hier ist eine
hohe Mauer. Dahinter liegt der Friedhof des Klosters. Es hat hier oben in der
Zwischenzeit geregnet. Nur wenige Schritte entfernt ist eine große Pfütze, wo
wir unseren ärgsten Durst stillen können.«
Noch vor einigen Monaten hätte es Onisha empört abgelehnt,
schmutziges Wasser zu trinken. Aber in dieser Nacht war sie in Windeseile an
der schlammigen Wasserlache und bildete sich ein, nie Köstlicheres getrunken zu
haben. Rouven schaffte es nicht mehr aus eigener Kraft. Er robbte ungeschickt
auf dem Bauch über den Boden, kam aber kaum weiter. Ben konnte das Elend nicht
mehr mit ansehen. Er packte Rouven im Nacken und zog ihn mit sich, während
Corey und Rocky mit der Nase Rouvens Hinterteil anschoben. Völlig entkräftet
blieb der verletzte Kater eine Weile in dem belebenden Nass liegen und trank
dann in kleinen, langsamen Schlucken.
Nachdem sich alle halbwegs erfrischt hatten, gab Ben Rocky und
Corey ein Zeichen. »Ihr bleibt bei Rouven. Ich erkunde mit den anderen die
Gegend.«
»Gut«, sagte Corey bedächtig und zog sich unter einen Baum
zurück. »Viel Glück!«
Die Nacht hatte ihr schwarzes Tuch über die Welt gebreitet. Jetzt
begann die Zeit der Katzen. Sie wurden munter und spürten in jeder ihrer
Körperzellen wahre Lebenskraft. Sie waren nun einmal Geschöpfe der Nacht.
Ben und seine Begleiterinnen hatten die Mauer, die den Friedhof
umgab, spielend erklommen und waren auf der anderen Seite wieder
heruntergesprungen. In bester Katzenmanier völlig geräuschlos. Der Friedhof war
ebenso gespenstisch wie andere seiner Art. Mit einem Unterschied: Die Grabmale
sahen alle königlich aus. In Stein gemeißelte Skulpturen, steinerne Engel oder
andere geflügelte Wesen. Und noch etwas fiel Onisha auf: Die Gräber hatten augenscheinlich
zwei Größen. Onisha beschnupperte einige neugierig. In den größeren fanden
spielend Menschen Platz und in den kleineren ... Ja, dachte Onisha, in die
kleineren passen wir gut hinein. Sie musterte Fleur von der Seite. »Das sind
nicht nur Menschengräber«, zischte sie ihr zu. »Hier liegen auch Tiere
begraben.«
»Du hast Recht!« Fleur verzog herablassend das Gesicht. »In der
Regel machen sie sich nicht so viel Mühe und verscharren uns bestenfalls in
ihren Gärten.«
Onisha schüttelte sich bei dem Gedanken. Sie hatte sich bisher
nie gefragt, wo ihre sterblichen Überreste wohl bleiben würden.
Twinky gesellte sich zu ihnen. »Hier stimmt irgendetwas nicht«,
flüsterte sie. Ihre kleine herzförmige Gesichtsmaske leuchtete im Mondschein.
»Ich habe den Eindruck, als wären die Gräber in einem bestimmten Muster angelegt.
Fragt sich nur, in welchem.«
Sie hatten nicht mehr die Gelegenheit, darüber nachzudenken, denn
Ben heulte hinter ihnen erstaunt auf. Onisha sah sofort den Grund: In der Mitte
der Gräber erhob sich ein Obelisk aus schwarzem Marmor. Er stand auf einem
mächtigen Sockel und überragte die Gräber wie ein stummer Wächter aus einer
fremden Welt.
»Was hat das Ding auf einem Friedhof zu suchen?«, stieß Ben
hervor und blickte um sich. »Zumindest auf einem christlichen.«
Das Mondlicht spiegelte sich in der goldenen Spitze des Obelisken
wider.
»Das muss der Obelisk der Sonne sein«, entfuhr es Fleur. Twinky
und Onisha sahen die Falbkatze erstaunt an.
»Was hast du gesagt?«, ließ Ben lautstark vernehmen.
Fleur schüttelte den Kopf, als sei sie gerade aus einem Traum
erwacht. »Ich weiß nicht«, stotterte sie verdattert. »Was habe ich noch gleich
gesagt?«
Onisha stieß einen erschrockenen Laut aus. Seit wann war Fleur
derart verwirrt?
»Du hast irgendetwas von einem Sonnenobelisken gemurmelt.« Ben
sah Fleur aufmerksam an. »Weißt du, welche Bedeutung das Ding hat?«
Fleur schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht einmal, woher ich es
kenne ...« Sie hielt inne. »Mir ist, als hätte meine Mutter mir davon erzählt.
Ich weiß nur noch so viel, dass ein Obelisk ein in die Länge gezogener
Abkömmling des Kultobjekts in der Verehrung des Sonnengottes Re ist. Ein
riesiger, himmelwärts zeigender Schaft aus Granit mit pyramidenförmiger
Spitze.«
»Du meine Güte, spielt die sich wieder auf«, stöhnte Twinky. Sie
hasste es, wenn jemand anderer als sie selbst im Mittelpunkt stand. Ben warf
ihr einen finsteren Blick zu und sie verstummte sofort. Mit ihm wollte sie es
sich nicht verscherzen.
Ben sah aufmerksam in die Richtung des halb zerfallenen Klosters,
das hinter dem Friedhof auf einer Anhöhe
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