Das Reich der Traeume
sie, als wären es seine Kinder. Heute Abend habe ich gelernt, dass jeder von uns verborgene Träume hat und wir aufpassen müssen, dass sie nicht eines Tages einfach verschwinden. Ein Mensch ohne Träume ist verloren.
* * *
Metáfora begleitet mich bis zur Stiftung. Ich glaube, sie hat bemerkt, dass mich etwas bedrückt. Die Unterhaltung mit Hinkebein hat mich traurig gemacht.
»Wir müssen etwas für ihn tun«, sage ich. »Er hat zwar Angst, noch mal zu versagen, aber ich glaube, er würde alles tun, um wieder in seinem Beruf arbeiten zu können.«
»Ja, du hast recht. Es heiÃt ja, die Hoffnung stirbt zuletzt. Und ich glaube, bei ihm ist noch ein kleines bisschen davon übrig geblieben.«
»Er hat mir so leidgetan, dass ich fast angefangen hätte zu heulen.«
»Siehst du, wie sensibel du bist?«
»So sensibel wie ein Mädchen?«
»Sensibel wie ein Mensch. Wer nicht fähig ist, den Kummer eines anderen zu verstehen, hat jedes menschliche Gefühl verloren. Ich bin stolz auf dich!«
Sie beugt sich zu mir herüber und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Dann dreht sie sich wortlos um und geht.
Bevor ich in mein Zimmer gehe, steige ich auf den Dachboden, um mit meiner Mutter zu reden. Ich muss ihr etwas erzählen, bevor ich es vergesse.
»Hallo, Mama, hier bin ich wieder. Heute Abend habe ich eine der interessantesten Geschichten erzählt bekommen, die ich jemals gehört habe. Es ist die Geschichte von meinem Freund Hinkebein, dem einbeinigen Bettler, der früher mal Archäologe war. Er ist ziemlich heruntergekommen, aber tief in seinem Herzen hat er sich einen Traum bewahrt. Er möchte alle versunkenen Städte der Welt entdecken und das sind bestimmt nicht wenige. Er sagt, wir leben auf einem Planeten voller Geheimnisse. Und er sagt, die Erde besteht aus mehreren Schichten und in jeder kann eine Stadt, ein Land oder auch eine ganze Zivilisation verborgen sein. Und er glaubt, dass wir Menschen genauso sind. Voller Geheimnisse. Das hat mich alles so aufgewühlt, dass ich an dich denken musste. Ich habe mich gefragt, ob du vielleicht in mir bist und ob ich irgendwann in der Lage sein werde, dich zu entdecken. Du kannst dir nicht vorstellen, wie gerne ich dich kennenlernen würde, wie gerne ich herausfinden würde, wer du in Wirklichkeit gewesen bist. Ich würde so gern wissen, was sich hinter diesem wunderschönen Bild verbirgt, auf dem du aussiehst wie eine Königin.«
Ich spüre, wie mir eine Träne über die Wange läuft. Metáfora hat recht: Weinen macht uns menschlicher.
»Und ich habe mich auch gefragt, ob es ein Zufall war, dass du in der Wüste gestorben bist, in der Nacht, in der Papa mich in das Pergament gewickelt hat ⦠Ich habe mich gefragt, ob es nicht Schicksal war. Ich bin sogar auf den Gedanken gekommen, dass du vielleicht absichtlich mit Papa in die Wüste gefahren bist, damit die Dinge auf diese Weise geschehen konnten. Hast du etwas damit zu tun, dass ich diese lebhaften Träume habe, durch die ich das Leben auf eine ganz besondere Art wahrnehme? Ich weiÃ, das klingt verrückt, aber als ich heute Abend Hinkebein zugehört habe, ist die Fantasie mit mir durchgegangen ⦠Und ich habe mich gefragt, welches mein gröÃter Traum ist. Wenn ich jetzt darauf antworten müsste, würde ich sagen, mein gröÃter Traum ist es, mit dir sprechen zu können, dir einen Kuss zu geben und dir zu sagen, wie sehr ich dich liebe.«
VII
Der Giftpfeil
A rturo und Alexia landeten fernab von jeder Ansiedlung. Die Sonne stand hoch am Himmel und brannte auf die felsige Landschaft herab.
Alexia ging zu dem Fluss, der wie ein Wasserfall zwischen weiÃen Felsen herabstürzte, und benetzte ihr Gesicht mit dem kühlen Nass. Der Schreck saà ihr noch immer in den Gliedern, und sie brauchte eine Weile, bis sie wieder ruhig atmen konnte.
Als sie sich wieder einigermaÃen erholt hatte, setzte sie sich neben Arturo unter eine Gruppe von Bäumen, die ihnen Schatten spendeten. Der Junge lehnte mit dem Rücken an einer alten Pappel. Er war so erschöpft, dass er halb eingeschlafen war.
»Das war sehr mutig von dir«, sagte die Prinzessin, während sie mit einem Grashalm spielte. »Ich werde nie vergessen, was du für mich getan hast. Mein Vater wird dich groÃzügig belohnen.«
Arturo antwortete nicht. Er schien sie nicht gehört zu haben. Alexia
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