Das Reich des dunklen Herrschers - 8
Illusion, aber wie erklärte man das jemandem, der ihnen bereits erlegen war? Für Frauen, die jeden außerhalb des Palasts altern und sterben sahen, während sie selbst scheinbar ewiger Jugend frönten, war Unsterblichkeit eine Verlockung, der sie nur schwerlich widerstehen konnten.
Wer von den Schwestern Kinder hatte, sah, wie sie des Palasts verwiesen wurden, um unter normalen Verhältnissen aufzuwachsen, sah diese selbst und deren Kinder alt werden und sterben. Einer Frau, die diese Dinge sah, die den ständigen Verfall und Tod all ihrer Lieben vor Augen hatte, während sie selbst für immer jung, attraktiv und begehrenswert zu bleiben schien, mußte das Angebot der Unsterblichkeit zunehmend verlockend erscheinen, je offenkundiger die eigene Blüte zu verblassen drohte.
Altern, das war der Eintritt in ein Endstadium, bedeutete das Ende des Lebens: im Palast der Propheten war es eine endlos lange, schwere Prüfung. Ann war bereits seit mehreren Jahrhunderten alt. Lange Zeit jung zu bleiben war eine wundervolle Erfahrung, ein langes Alter hingegen nicht - zumindest nicht für jeden. Für Ann war das Leben an sich wundervoll - und nicht so sehr eine Frage des Alters und des Wissens, das sie sich angeeignet hatte. Aber das empfand durchaus nicht jeder so.
Jetzt, nach der Zerstörung des Palasts, würden sie alle im selben Tempo altern wie alle anderen. Hatte Ann vor kurzem noch auf eine Zukunft von vielleicht einhundert Jahren blicken können, so stand ihr jetzt womöglich nur ein flüchtiger Augenblick von einem Jahrzehnt bevor - viel mehr ganz sicher nicht.
Allerdings bezweifelte sie. daß sie in diesem feuchten Loch, abgeschnitten von Licht und Leben, überhaupt so lange überleben würde.
Irgendwie kam es ihr gar nicht so vor, als wären sie und Nathan fast eintausend Jahre alt. Das Gefühl, im normalen Tempo außerhalb des Banns zu altern, war ihr unbekannt, dennoch meinte sie, keinen großen Unterschied zu den außerhalb des Palasts Lebenden feststellen zu können. Vielmehr glaubte sie, der Bann, der ihren Alterungsprozeß drosselte, beeinflußte auch ihre Zeitwahrnehmung - zumindest in gewissem Maße.
Welchen Sinn hatte ihr Leben gehabt? Wie viel Gutes hatte sie, bei ehrlicher Betrachtung, tatsächlich erreicht? Sie hörte, wie sich die Tür am Ende des zu ihrer Zelle führenden Ganges scharrend öffnete, und beschloß, die Nahrungsaufnahme zu verweigern. Sie würde keinerlei Nahrung mehr zu sich nehmen, bis Nathan, wie sie es verlangt hatte, kam und mit ihr sprach.
Manchmal gab man ihr zum Essen etwas Wein. Den schickte ihr Nathan, um sie zu ärgern, dessen war sie sich sicher. Zuweilen hatte auch er in seinem Gefängnis im Palast der Propheten Wein verlangt. Ann hatte die betreffenden Anfragen stets vorgelegt bekommen und sie ausnahmslos abschlägig beschieden.
Waren Zauberer an sich bereits gefährlich genug, so waren Propheten - also Zauberer mit dem Talent zu Prophezeiungen - potentiell um ein Vielfaches gefährlicher, am gefährlichsten jedoch waren betrunkene Propheten.
Eine Prophezeiung aufs Geratewohl abzugeben kam einer Aufforderung an das Unheil gleich. Es war vorgekommen, daß eine einfache Prophezeiung, die aus dem Gefängnis der steinernen Mauern des Palasts der Propheten gedrungen war, Kriege ausgelöst hatte.
Zuweilen hatte Nathan um weibliche Gesellschaft ersucht. Diese Anfragen waren Ann am verhaßtesten gewesen, denn sie hatte ihnen gelegentlich stattgegeben. Irgendwie hatte sie sich dazu verpflichtet gefühlt. Nathan, eingesperrt in seine Gemächer, sein einziges Verbrechen seine Abstammung und seine Talente, hatte nur wenig vom Leben, und für den Palast war es eine Kleinigkeit, ihm gelegentlich einen Damenbesuch zu bezahlen.
Nicht selten hatte er die Gelegenheit genutzt, sich über die Frauen lustig zu machen - und eine Prophezeiung abgegeben, die sie in die Flucht getrieben hatte, ehe man mit ihnen sprechen und sie zum Schweigen bringen konnte.
Ohne eine entsprechende Ausbildung war niemand befugt, Prophezeiungen zu Gesicht zu bekommen. Wer nicht über das nötige Verständnis ihrer Feinheiten verfügte, neigte leicht dazu, sie fehlzudeuten. Eine Prophezeiung gegenüber Uneingeweihten zu enthüllen, das war, als werfe man eine brennende Fackel in trockenes Gras.
Prophezeiungen waren ausschließlich den Eingeweihten vorbehalten.
Beim Gedanken, daß der Prophet auf freiem Fuß war, zog sich Anns Magen zu einem festen Knoten zusammen. Gleichwohl hatte sie ihn zuweilen heimlich
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