Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Reliquiar

Das Reliquiar

Titel: Das Reliquiar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Seymour
Vom Netzwerk:
stellte das Tablett auf den Tisch. »Ihr habt zwei Tage geschlafen.«
    »Zwei Tage?«, wiederholte Gualtiero überrascht.
    »Ihr seid müde und fiebrig gewesen. Und mit Eurer Schulter stand es nicht zum Besten. Wie ich sehe, geht es Euch besser.«
    »Was ich Eurer Pflege zu verdanken habe.«
    »Es freut Euch sicher zu hören, dass sich auch Eure Gefährten gut erholen. Die anderen Ordensbrüder kümmern sich um sie.«
    »Meine Gefährten... Jetzt erinnere ich mich: die Brücke, der Schnee...«
    Der Mönch brachte ihm eine Schüssel Suppe. »Esst jetzt. Nachher könnt Ihr mir, wenn Ihr wollt, von Euch erzählen.«
     
    »Meine Geschichte begann vor langer Zeit«, sagte Gualtiero. »Sie begann, als mein Vorfahr Arrigo Brandanti das Kreuz von Byzanz verlor, ein einzigartiges Kleinod, das ein Stück von dem Kreuz enthielt, an dem Jesus Christus starb. Seid gewarnt, es ist eine lange Geschichte...«
    Der Mönch lächelte matt. Er wusste genug von der Welt, um einen Ritter zu erkennen, und bei diesem jungen Mann handelte es sich zweifellos um einen. Es geschah nicht oft, dass sich jemand in die Berge wagte und in dem abgelegenen Kloster unterkam, erst recht nicht im Herbst und im Winter; meistens waren es Händler
oder Pilger, manchmal auch fahrende Mönche, aber niemals Ritter. »Ohne Geduld wäre es schwer, in dieser Abgeschiedenheit zu überleben«, antwortete er ruhig.
    Gualtiero erwiderte das Lächeln. »Ich bin in Sandriano geboren, im ältesten unserer Lehen, und ich bin der älteste von drei Brüdern. Mein Vater Manfredi hat vergeblich nach dem Kreuz gesucht und anschließend als Kreuzfahrer acht Jahre im Heiligen Land verbracht. Bei seiner Rückkehr heiratete er Ermelinda Corsini, die bei der Geburt ihres dritten Kindes starb. Meine Brüder und ich sind bei Elisa aufgewachsen, der jüngeren Schwester meinesVaters. Als der richtige Moment kam, hat man uns an die Höfe anderer Lehnsherren geschickt, damit wir den Umgang mit Waffen lernten und Ritter wurden. Der jüngste meiner Brüder hat sich für das Leben im Kloster entschieden, und der mittlere dient einem französischen Herrn; ich habe schon seit einer ganzen Weile nichts mehr von ihm gehört. Als Erstgeborener gingen beim Tod meines Vaters die Besitztümer der Familie auf mich über. Doch aus dem gleichen Grund musste ich auch die Aufgabe übernehmen, das Kreuz zu suchen. Ich habe in Rom begonnen, denn dort hatte mein Vater seine Spur verloren, und vage Hinweise führten mich nach Jerusalem,Antiochia und Edessa. Doch vergeblich. Bei meinen Reisen habe ich mit zahlreichen Magiern und Gelehrten gesprochen, und eines Tages bin ich einem Einsiedler begegnet, der mir sagte, er habe das Kreuz in einem abgelegenen Kloster im Ural gesehen. So habe ich mich voller Hoffnung auf den Weg gemacht, ohne zu ahnen, welche Herausforderungen mich erwarteten und wie viele meiner Gefährten unterwegs sterben würden.« Gualtiero hielt inne und wartete.

    Der Mönch schwieg, drehte den Kopf zur Seite und beobachtete das Feuer im Kamin.
    Der Graf wusste nicht, was er von der Wortlosigkeit des Mannes halten sollte. Tief in seinem Innern regten sich Zweifel daran, ob er der richtigen Spur gefolgt war. Er befürchtete plötzlich, dass das Kreuz erneut verschwunden war oder sich vielleicht nie an diesem Ort befunden hatte.
    »Jener Eremit hat Euch den richtigen Weg gewiesen, mein junger Freund«, sagte der Mönch schließlich. »Wir hüten hier ein Kreuz, das Eurer Beschreibung entspricht. Ein Ordensbruder brachte es vor vielen Jahren, und er starb, ohne uns zu sagen, wie es in seinen Besitz gelangte. Es befindet sich in der Kapelle, und ich zeige es Euch gern, aber ich fürchte, Ihr könnt es nicht mitnehmen.«
    »Ich habe keineswegs vor, es Eurer Obhut zu entziehen«, sagte Gualtiero, und seine Miene hellte sich auf. »Mir genügt es zu wissen, dass meine Suche beendet ist und all das Leid meiner Familie nicht umsonst war.«
    »Kommt«, sagte der Mönch und stand auf. »Ich führe Euch zu der Kapelle.«
    Gualtiero folgte ihm durch lange, dunkle Korridore bis zur Kapelle, die von zahlreichen Kerzen erleuchtet wurde. Dort trat der Mönch an den Altar, wo zwischen Ostensorien aus Gold und Silber, Kerzenleuchtern und anderen geweihten Objekten auf einem amarantroten Samtkissen ein Kreuz ruhte, aus purem Gold und mit Edelsteinen besetzt.
    »Da ist es«, sagte der Mönch ehrfürchtig.
    Gualtiero hatte das Kreuz nie gesehen, es aber so oft von seinem Vater beschrieben bekommen, dass er

Weitere Kostenlose Bücher