Das Reliquiar
in einer dunklen Ecke, aber sie spürte seinen aufmerksamen Blick. Anstatt sich auf Nicholas’ Stimme zu konzentrieren, fragte sie sich immer wieder, was ihnen bevorstand, wenn Beatrice tatsächlich das Versteck des Kreuzes preisgeben würde.Wenn Enzo bekommen hatte, was er wollte, gab er vermutlich den Befehl, Nicholas und sie zu erschießen. Immerhin wussten sie zu viel.
»Ich schaffe es einfach nicht«, sagte Elena schließlich und setzte sich auf.
»Du versuchst nur, Zeit zu gewinnen«, erwiderte Enzo.
»Ich bin einfach zu erschrocken und zu nervös«, sagte Elena verärgert. »So wie du mich anstarrst... Dein Blick lähmt mich geradezu. So kann ich mich nicht entspannen. Wie wär’s, wenn du das Zimmer verlässt?«
»Ich gehe nicht, nur weil du hysterisch bist. Beruhige dich, und sorg dafür, dass ich die Informationen bekomme, die ich brauche. Andernfalls hole ich Stefano und sorge dafür, dass er deinem Freund eine Lektion erteilt.«
»Drohungen helfen mir nicht beim Entspannen.«
»Dann zwingst du mich, Maßnahmen zu ergreifen, auf die ich lieber verzichtet hätte.« Enzo stand auf, ging zur Tür, öffnete sie und wechselte einige Worte mit Stefano Monti, der im Flur Wache hielt.
»Was hast du vor?«, fragte Elena besorgt.
»Machen Sie keinen Blödsinn, Professor«, mahnte Nicholas.
Enzo antwortete nicht und wartete, bis Stefano zurückkehrte und ihm gab, worum er gebeten hatte. Er schloss die Tür, und als er sich umdrehte, sahen Elena und Nicholas, dass er eine Spritze in der Hand hielt, gefüllt mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Damit näherte er sich Elena.
Nicholas versperrte ihm den Weg. »Was ist das für ein Zeug?«, fragte er.
»Nur ein Sedativum«, antwortete Enzo. »Gehen Sie mir aus dem Weg.«
»Kommen Sie Elena damit nicht zu nahe!« Nicholas versuchte, den Professor festzuhalten, doch Enzo gab ihm einen Stoß, der Nicholas aus dem Gleichgewicht brachte und ihn zu Boden fallen ließ. Mit einigen raschen Schritten war Enzo bei Elena und ergriff sie am Arm.
Die junge Frau hatte keineswegs die Absicht, sich ein Beruhigungsmittel injizieren zu lassen. Sie schlug um sich und gab Nicholas damit genug Zeit, wieder auf die Beine zu kommen und sich auf den Professor zu stürzen. Die beiden Männer rangen keuchend miteinander, während Elena zur Tür lief, sie abschloss und so verhinderte, dass Glauco und Stefano, vom plötzlichen Lärm alarmiert, hereinkommen konnten. Sie drehte den Schlüssel
gerade rechtzeitig im Schloss um – nur eine Sekunde später hämmerten die beiden Ausgesperrten an die Tür und drohten damit zu schießen, wenn nicht sofort aufgemacht würde.
Nicholas war es unterdessen gelungen, Enzo die Spritze aus der Hand zu schlagen. Der Professor lag auf dem Boden und versuchte, sie zu erreichen, aber Nicholas hielt ihn an den Beinen fest. Elena langte nach der Spritze, hob sie auf und rammte sie Enzo in die Schulter, der einen schmerzerfüllten und gleichzeitig zornigen Schrei ausstieß. Bevor das Sedativum wirkte, gelang es dem Professor noch, seinem Kontrahenten einen Tritt in die Seite zu versetzen, woraufhin Nicholas Enzos Beine losließ. Elena warf die Spritze weg und kam ihrem schottischen Freund zu Hilfe. Wenige Augenblicke später erschlaffte Enzo und blieb reglos liegen.
Das Hämmern an der Tür wurde noch lauter, als Elena Nicholas am Arm ergriff und ihn zum Fenster zog – sie wollte nach draußen klettern und fliehen.
Doch als sie die Gardinen zur Seite zog, sah sie sich einem Eisengitter gegenüber.
»Verdammt, wir sitzen in der Falle!«, rief sie und zerrte vergeblich an den Gitterstäben.
Genau in diesem Augenblick flogen Holz- und Metallsplitter umher, und die Tür des Arbeitszimmers sprang auf.
20
Rhodos, Festung der Ritter vom Johanniterorden, 20. Mai 1455
Zwei Jahrhunderte hatten sie gebraucht, aber schließlich waren sie erfolgreich. Die Osmanen unter Mohammed II. hatten Konstantinopel fast einen Monat lang belagert, und am 29. Mai 1453 war die Stadt gefallen. Mit ihr endete der Rest des fast tausendjährigen Byzantinischen Reiches.
Papst Kalixt III. hatte zu einem neuen Kreuzzug zur Befreiung von Konstantinopel aufgerufen, aber es war ihm nicht gelungen, die Gleichgültigkeit der verschiedenen Herrscher zu erschüttern, insbesondere die des Kaisers Friedrich III. Konstantinopel war nicht Jerusalem; der Rettungsaufruf hatte nicht die gleiche Wirkung wie der, der die Heilige Stadt betraf. Als unbeugsame Verteidiger des Christentums
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