Das Rennen zum Mars
Maserung aus hellblauen Strängen. Sie streckten und dehnten sich wie die Sehnen eines Muskels, der so langsam anschwoll, daß das Auge die Bewegung gerade noch wahrnahm. Das ein paar Meter entfernte Gebilde wuchs langsam, aber stetig in ihre Richtung. Schlauchartige Stengel schlängelten sich zwischen borkenartigen braunen Auswüchsen hindurch. Andere Fasern versponnen sich zu einer gelben blätterteigartigen Masse, die Brocken aus der porösen Matte herauszureißen schien. Konturen wurden ausgeprägt, und die ganze Struktur schien zu knospen, als ob eine ganz neue Pflanze aus der feuchten Oberfläche wüchse.
Julias Herz raste. Sie hing bewegungslos im Geschirr und beobachtete den Vorgang, wobei sie als Meßlatte für das Wachstum des Gebildes ihre Atemfrequenz anlegte. Lautlos dehnte die Masse sich aus und quoll auf sie zu. Sie spürte fast körperlich, wie etwas um Gestaltwerdung rang und sich mit aller Macht auf diesen Fokus konzentrierte.
»Mein Gott«, sagte Marc. »Es ist …«
Ein kompaktes, quaderförmiges Gebilde, dessen Oberseite auf sie gerichtet war. Zwei Äste, geformt von den blauen Strängen, sprossen oben aus den Seiten. An der Grundfläche des Blocks erschienen zwei weitere Auswüchse, Brocken aus dunkler Mattensubstanz, die sich mühsam, wie unter Schmerzen zu dickeren Röhren formten …
Und an den Seiten, oberhalb der zwei sich verdickenden Röhren, die nun aus beiden Seiten ragten … ein dritter Auswuchs, ebenholzfarben und so dick wie Baumrinde, quoll aus dem Hauptkörper.
Zuerst wollte sie es nicht wahrhaben. Das ist unmöglich. Das kann nicht sein. »Eine … menschliche Gestalt.«
Da gab es keinen Zweifel. Die Matte schuf ein Pseudopodium mit pseudohumaner Form.
»Was …?«
»So interpretiert die Matte uns.«
»Auch eine Art von Resonanz?«
Die inzwischen abgeschlossene Genese hatte Marc in den Bann gezogen. Da stand das Gebilde nun und überragte die umgebende Masse um über einen halben Meter. Obwohl die Konturen einem menschlichen Körper nur grob nachempfunden waren, bestand dennoch kein Zweifel an der Intention der Matte. Julia versuchte, Antworten auf Fragen zu finden, das Gehirn auf Trab zu halten. Wie war es möglich, daß eine Matte so schnell eine spezifische Form ausprägte …? Woher wußte sie überhaupt …?
»Sie ist irgendwie imstande, uns zu sehen«, sagte sie mit trockener Kehle. »Zumindest so deutlich, daß sie in der Lage ist, unsre Konturen zu rekonstruieren.«
»Hat sie etwa Augen?«
»Vielleicht ist das die Erklärung für das Glühen. Die Matte kommuniziert innerhalb der Kaverne mit Licht.«
»Empfindungsvermögen?«
»Unbedingt. Auf die eine oder andere Art. Sie ist so hoch entwickelt, um ihre Umgebung zu kontrollieren. Das ist ein generelles Merkmal von Leben.«
»Aber wieso hat sie Gerda und Chen getötet?« fragte Marc und drehte sich im Geschirr. Er schaltete die Microcam ein und nahm das Ding vor dem Hintergrundleuchten in einer langen Einstellung auf. Glühte die Matte nun intensiver? Vielleicht gelang die Aufnahme doch, obwohl Feuchtigkeit und Dunkelheit das Licht zu absorbieren schienen. Sie richteten die Lampen nicht direkt auf die Matte, sondern begnügten sich mit der Helligkeit, die die vom Dunst gestreuten Lichtreflexe spendeten. Die Matte schien im näheren Umkreis des Gebildes intensiver zu glühen. Sie nahm die Stelle mit der Microcam ins Visier und bestrich systematisch den ganzen Abschnitt.
»Die Matte hat sie nicht getötet«, sagte sie leise. »Allenfalls aus Versehen. Sie hat sie umschlungen und abgetastet … um herauszufinden, was sie darstellten?«
»Sie hatten das Geschirr abgelegt. Die Winde war in diesem Moment sowieso nutzlos. Dann hat die Matte sie erwischt.«
Ob sie uns hört? Welche Sinne sie wohl hat … und ob sie den unsrigen auch nur annähernd gleichen?
Sie stieß einen Wortschwall aus, um das aufkeimende Unbehagen zu überspielen. »Vielleicht hat die Mars-Matte ihr Erscheinen als Angriff betrachtet. Die Ventil-Membran hat sich automatisch geschlossen. Die Gefahr kommt von oben -Peroxide, Kälte und Vakuum. Die Matte ist in der Lage, Dampfdruck zu erzeugen und den Ausgang zu schließen. Chen und Gerda sind unten eingesperrt worden und haben sich dann in der Matte verfangen.«
Marc drehte sich langsam um die Achse des Seils und schaute unbehaglich in die Dunkelheit, die sie nun wie hauchdünne Schleier einzuhüllen schien. »Wie bewegen wir die Matte dazu, uns freizulassen?«
»Ich vermute, daß sie zwar
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